Bitte ohne Tischgebet

■ „Überleben!“ beweist: Wahre Männerfreundschaft überdauert den Tod

Am 13.Oktober 1972 stürzte über den Anden eine Chartermaschine aus Uruguay ab. Ein Großteil der Insassen, eine Rugby- Mannschaft mit Freunden und Verwandten, war sofort tot. Die Überlebenden, zum Teil schwer verletzt, warteten in 3.500 Meter Höhe und bei zum Teil Minus 40 Grad Kälte auf Rettungshubschrauber, aber vergeblich. Nach einer Woche hatte man die Suche nach dem verschwundenen Flugzeug aufgegeben. Zehn Wochen lang harrte die Truppe im ewigen Schnee aus, überstand Hunger (man aß die Toten), Kälte (man verbrannte Geldscheine), Wahnsinn (man betete gemeinsam zu Abend) und Lawinen (mehrere Todesopfer, darunter die letzte der überlebenden Frauen), bis Nando und Roberto, zwei der Rugbyspieler, sich auf den Weg durchs Gebirge machten und Hilfe holen konnten.

Nando Parrado hielt die Erlebnisse in den Anden in einem Buch fest, Frank Marshall, Regisseur von „Arachnophobia“ und Produzent zahlreicher Kassenschlager wie „Roger Rabbit“, „Hook“ und „Die Farbe Lila“, hat die Überlebens-Story nun verfilmt. Mit Parrado als technischem Berater, wegen der Authentizität. Die Flugzeugmarke ist echt, der Absturz wahrlich schwindelerregend simuliert, die Schauspieler magerten mittels Spezialdiät termingerecht ab und froren auch auf dem Set trotz Plastikunterwäsche erbärmlich. Selbst die Zigarettenmarke enstpricht der historischen: als einzige Reserve hatte sich im Flugzeugwrack ein Koffer voll Zigaretten befunden. Wenn dann der blaue Himmel sich über der Gebirgskulisse wölbt und die Helden sich mit Sonnenbrille, Acht-Tage- Bart und Zigarette im Mundwinkel im Schleudersitz bräunen, verflüchtigt sich der Kampf ums nackte Leben zum Urlaubserlebnis.

„Überleben!“ erweitert den Mythos vom American Hero, der in auswegloser Situation den Mut nicht verliert und das Unmögliche möglich macht, um das Lob der Männerfreundschaft. Wie in „Lorenzos Öl“ ein liebendes Elternpaar der unheilbaren Krankheit ihres Sohnes den Kampf ansagt, so triumphiert hier der sportliche Mannschaftsgeist über die Angst vorm Verrecken. Der echte Held kapituliert niemals – auch „Überleben!“ fügt sich trefflich in die PR- Arbeit der amerikanischen Filmindustrie mit ihrem Zweckoptimismus gegen Wirtschaftskrise und Rezession.

Die Authentizität hat ihre Grenzen. Über den Wundbrand und die abfaulenden Beine der zwei schwerverletzten Mannschaftsmitglieder schwenkt die Kamera vornehm hinweg, die Psychofolgen reduzieren sich auf vorübergehende Aggressionen (die in jedem Großraumbüro heftiger ausgetragen werden), manch stieren Blick und nervöses Kratzen am Handrücken. Man ist ja kein Unmensch. Nach zwei Kinostunden wundert sich die neugierige Zuschauerin, warum sich keiner der Jungs auch nur einen Schnupfen einfängt.

Was die Ernährung mittels Menschenfleisch betrifft, verhandelt Marshall ausschließlich die moralische Frage. Halbverhungert debattiert man den kannibalistischen Akt, empört sich, wägt ab, bekreuzigt sich und schreitet schließlich mit feierlichem Ernst zur Tat. Im Hollywoodkino bleibt Mensch ein grundanständiges, wohlerzogenes Wesen, selbst wenn die Zivilisation in noch so weite Ferne rückt. Die praktischen Probleme des Verzehrs von rohen, tiefgefrorenen Leichen lösen sich wie von selbst. Marshall überhöht das Totenmahl zum mystischen Verbrüderungritual, bei dem man sich buchstäblich aneinander stärkt. Wahre Solidarität geht über den Tod hinaus. Erst jetzt gelingt den beiden Mutigsten die Rettungsaktion.

Die Moral von der Geschichte: Ein Kamerad ist, wen man essen darf. Mich könnt ihr haben, wenn's soweit ist. Aber bitte ohne Tischgebet. Christiane Peitz

Frank Marshall: „Überleben!“. Drehbuch: John Patrick Shanley; mit Ethan Hawke, Vincent Spano u.a., USA 1992, 127 Min.