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Wer ist ein russisch „Angeknüpfter“?

Die lettische Regierung plant, daß all diejenigen, die an die Rote Armee „angeknüpft“ waren, das Land verlassen müssen / Nationale Parolen sollen von Wirtschaftskrise ablenken  ■ Aus Riga Reinhard Wolff

Wenige Wochen vor den Parlamentswahlen am 5. und 6. Juni will Lettlands konservative Regierung ihre nationale Gesinnung unter Beweis stellen. So liegt dem „Obersten Rat“, der derzeitigen Volksvertretung, ein Gesetzentwurf vor, der die Aufenthaltserlaubnis für die noch in Lettland stationierten russischen Soldaten samt ihren Familien auf ein Jahr begrenzt. Der Entwurf, dessen Annahme aufgrund der Machtverhältnisse im Parlament als sicher gilt, wird in Moskau bereits als „Vorbereitung zur Durchführung von Deportationen“ bezeichnet.

Gegen russische Proteste hatte Lettlands Regierung Ende April außerdem beschlossen, die restriktive Staatsbürgerschaftsregelung vor den Parlamentswahlen nicht mehr zu verändern. Mit diesem Beschluß werden etwa 700.000 der 2,6 Millionen EinwohnerInnen bis auf weiteres Nicht-StaatsbürgerInnen bleiben. Soweit sie vom Alter her wahlberechtigt wären, wird ihnen das Wahlrecht verweigert. Der stellvertretende lettische Staatschef Viesturs Karnups begründete den Beschluß gegenüber einer westlichen JournalistInnengruppe damit, daß die Regierung keine Veranlassung sehe, das Staatsbürgerschaftsgesetz von 1919 zu ändern. Dieses Gesetz schließt – ebenso wie ein Regierungsbeschluß, der nur Staatsbürgern, die ihr Bürgerrecht vor der sowjetischen Okkupation am 17. Juni 1940 erworben haben, die Wahlberechtigung erteilt – die russische Minderheit fast vollständig von den Wahlen aus.

Von allen drei baltischen Staaten hat Lettland zahlenmäßig die größe russische Minderheit. Nur 52 Prozent der Bevölkerung sind LettInnen – in Riga sind es sogar nur 38 Prozent. Die Regierung hat nach Mitteilung von Karnups weiterhin festgelegt, daß alle Personen, die „Anknüpfung“ an die Rote Armee oder zur Kommunistischen Partei des Landes hatten, niemals lettische Staatsbürger werden können. Das Wort „Anknüpfung“ macht diese Bevölkerungsgruppe nahezu unbeschränkt ausweitbar. Die Zahl der russischen Soldaten im Lande beträgt zwar nur noch 24.000. Die Zahl der „Angeknüpften“ liegt nach Schätzung des stellvertretenden Staatschefs aber sechs- bis zehnfach höher: sie alle müßten, „zusammen mit den Armeesoldaten das Land verlassen“. Offen ließ Karnups, wie der Begriff der „Anknüpfung“ im Verhältnis zur lettischen KP zu verstehen ist.

Auf Fragen von JournalistInnen hin bestritt Karnups den Vorwurf ethnischer Diskriminierung bei den ersten freien Wahlen seit 1939: „Es geht nicht um Diskriminierung, sondern um Zuordnung. Entweder man war 1940 Staatsbürger, oder man war es nicht.“ Forderungen aus dem Westen nach einer großzügigeren Regelung wies er scharf zurück: „Hier wirkt noch die fortgesetzte Desinformationskampagne des KGB.“ Persönlich beleidigt zeigte sich Karnups bei Fragen nach seiner eigenen „Anknüpfung“ an Lettland. Der Vizestaatschef gehört der rechtsnationalen „Nationalen Unabhängigkeitsbewegung“ an. Er wurde in Deutschland geboren, wuchs in Australien auf und kam erstmals 1991 nach Lettland. Angesichts der Begrenzungen des Wahlrechts wird es für sicher gehalten, daß seine und die übrigen nationalistischen Parteien das neu zu wählende Parlament sicher im Griff haben werden.

Die nationalistischen Wahlkampftöne sollen die WählerInnen ganz offensichtlich von dem eigentlich brennenden Problem, der wirtschaftlichen Situation des Landes, ablenken. Karnups: „Wir müssen ein freies Lettland für die lettische Bevölkerung sichern. Erst dann werden wir eine freie Marktwirtschaft einführen können.“ Kein Thema ist so das Absinken des Lebensstandards um 25 Prozent innerhalb eines Jahres, kein Thema die Verteuerung der Lebensmittel um 800 Prozent. Hier liegen fast alle der 27 zur Wahl stehenden Parteien auf einer Argumentationsschiene: Keine konkreten Pläne, keine Strategien, erst müsse eine richtige „Saeima“- Volksvertretung stehen; der „Oberste Rat“ wurde noch 1990, vor Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit, gewählt.

Die starre Haltung gegen die russische Bevölkerung könnte der Wirtschaft zudem weiteren Schaden zufügen. Denn der gesamte Außenhandel des Landes ist nach wie vor fast ausschließlich von Rußland abhängig. Das Land importiert russisches Erdöl, und auch die meisten Rohstoffe kommen aus dem Osten. Viele der in lettischen Fabriken hergestellten Produkte sind von so schlechter Qualität, daß sie wiederum nur auf dem russischen Markt abgesetzt werden können. Oder aber in den immer voller werdenden Lagerhäusern vor sich hin gammeln. „Im Mai, Juni werden viele Fabriken kein Geld mehr haben, Löhne zu bezahlen“, gesteht Vize-Parlamentsvorsitzender Valdis Birkavs. „Es besteht die Gefahr von 100.000 neuen Arbeitslosen.“

Die Arbeitslosenrate liegt schon jetzt bei über 20 Prozent. Der durchschnittliche Lohn beträgt 10.000 bis 12.000 lettische Rubel, das sind etwa 130 Mark. Davon bekommt man in Rigas größtem Warenhaus „Universalveikals“ gerade eine elektrische Kaffeemaschine.

Dramatisch ist die Arbeitslosigkeit unter der russischen Minderheit. Sie waren vor allem im industriellen Produktionsbereich beschäftigt. Die forcierte Industrialisierung nach dem Krieg hatte Moskau die Möglichkeit eröffnet, russische Familien hier anzusiedeln. Vor allem trifft die Arbeitslosigkeit die Frauen. Zum einen, weil besonders viele typische Frauenarbeitsplätze gestrichen wurden, zum anderen, weil sich die lettischen Sprachgesetze hier besonders diskriminierend auswirken: in großem Umfang sind russische Büroangestellte entlassen worden, weil angeblich ihre Lettischkenntnisse nicht ausreichten. Für Viesturs Karnups ist dies kein Schaden: Die Mehrheit aller RussInnen sei sowieso in „Anknüpfung“ zur russischen Okkupationsmacht zu sehen.

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