Messias oder Narr?

Russische Theater zu Gast in Mülheim/Ruhr  ■ Von Gerhard Preußer

Das Festival „Theaterlandschaften“ ist eine unauffällige Veranstaltung. In seiner Exklusivität, Kontinuität und Konzentration ist es ein Gegenmodell zu „Theater der Welt“. Nichts sensationell Exotisches soll gezeigt werden, sondern uns nahe, aber unbekannte Theaterländer. Es geht darum, das Fremde kennenzulernen, nicht seine Fremdheit einmalig zu genießen.

Seit sieben Jahren wird das kleine Festival vom Mülheimer Theater an der Ruhr organisiert. Zunächst wurden in drei Jahren Inszenierungen aus Jugoslawien vorgestellt, nach einem Jahr Pause folgten dann in zwei Jahren Inszenierungen aus Polen. Der Blick richtet sich also gen Osten, und das nicht erst seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Die Gastspiele des Theaters an der Ruhr in osteuropäischen Ländern und die kontinuierliche Beschäftigung mit der dortigen Theaterszene haben Roberto Ciulli und seinem Theater ein Ansehen verschafft, dem seine Außenseiterrolle im deutschen Theatersystem nicht entspricht. Für osteuropäische Theaterleute liegen Köln und Düsseldorf bei Mülheim und nicht umgekehrt.

Was Roberto Ciulli dann einlädt, sind die experimentierfreudigen, für seine eigene Arbeit anregenden Inszenierungen. Exklusiv bleibt das Festival auch deshalb, weil auf Übersetzungen grundsätzlich verzichtet wird. Das Theater spricht seine eigene Sprache, meint Ciulli.

In diesem Jahr nun begann die Beschäftigung mit Rußland, mit Aufführungen aus St. Petersburg und Moskau. Die Lage der Theater in Rußland sei schwierig, aber nicht hoffnungslos, berichteten die russischen Gäste. Nicht mehr staatlich, aber noch nicht privat, versuchten sie eine neue Rolle zu finden. Früher sei das Theater zugleich Kirche, Universität, Platz und Tribüne gewesen; heute sei es nur noch Theater. Das Theater habe früher die Rolle des Messias gespielt, jetzt sei es nur noch der Narr der Gesellschaft, sagte die Petersburger Kritikerin Marina Dmitrewskaja. Im Gegensatz zur Umbruchphase in der DDR scheinen die Theater aber voll zu sein – weil sie das Harmoniebedürfnis des Publikums befriedigten, das durch die gesellschaftliche Disharmonie hervorgerufen werde, erklärte man.

Von solchem Theater, das nur gewohnheitsmäßige Erwartungen befriedigt, war bei der in Mülheim gezeigten Auswahl von Inszenierungen aber nichts zu sehen. Es gab zwar eine ästhetisch konservative Aufführung, die aber politisch umso verstörender war: „Moskau. Gebet um einen gefüllten Kelch“, von Lew Timofejew. Dieser Ehekrieg eines Dissidentenpaares wird mit den an Tschechow geschulten Mitteln der psychologischen Tragikomödie dargestellt. Das 1984 geschriebene autobiographische Stück wirkt heute nicht nur ästhetisch verstaubt, es zeigt auch, wie desorientiert die einstige politische Avantgarde, die Wegbereiter des Umbruchs, heute vor den Resultaten ihrer Arbeit stehen. Die Aufführung widerlegt den Gedanken, daß die Zukunft der Vergangenheit immer die Gegenwart sei. Diese Dissidenten haben Geschichte gemacht, aber ihren Verlauf konnten sie nicht steuern.

Ein klassisches russisches Stück – Nikolai Gogols „Revisor“ – gab es auch zu sehen, aber in einer ungewöhnlichen Version. Sergej Dreiden spielt alle Rollen der Komödie selbst. Das ist ein Feuerwerk von pantomimischen Tricks und karikierender Verstellungskunst. Aber der Schwung des Abends kommt auch aus den aktualisierenden Improvisationen, die im direkten Kontakt mit den Zuschauern entstehen (was bei einem zum großen Teil des Russischen unkundigen Publikum natürlich schwierig ist). Hier nutzt das Theater seine neue Funktion als Hofnarr: Es hält gewitzt, willkürlich und subjektiv, im Bewußtsein der eigenen Wirkungslosigkeit der russischen Gesellschaft den Spiegel vor.

In den Diskussionen in Mülheim wurde ein Ausspruch des Philosophen Berjadew zitiert, für die Russen sei es typisch, die religiöse Einstellung auf nicht-religiöse Bereiche zu übertragen. Diese für uns, die wir noch die jahrzehntelang uns eingetrichterte Gleichung: russisch ist gleich kommunistisch im Ohr haben, ungewohnte Behauptung, wurde vom Gastspiel des Moskauer Klim- Theaters eindrucksvoll belegt. Seine Aufführung des altrussischen Heldenepos „Igorlied“ unter dem Titel „Leiter – Baum“ ist eher eine siebenstündige Meditationsübung mit Publikum als die Inszenierung eines Textes. Die Schauspieler sprechen zwar in einem improvisierten Singsang Texte, aber auch wenn man ihren Wortlaut verstünde, wären sie nebensächlich. Die Schauspieler kommen auf die Bühne, stellen sich auf ihre Positionen und beginnen mit Handbewegungen, Drehungen, Schritten und jenem sonoren modalen Gesang, der teils an orthodoxe Kirchenchöre, teils an slawische Folklore erinnert. Das ist aufregend wie ein Abend vor dem Aquarium (wenn die Fische sängen). Es ist faszinierend durch die Ruhe und das archaische Zeitgefühl, in das man hineingesogen wird. Es gibt ruhige, fast bewegungslose Phasen, wenn alle in Demutshaltung auf dem Boden kauern, es gibt lebhafte Momente, wenn eine Tänzerin, begleitet von inbrünstigen Wechselgesängen der Mitspieler, wie ein Kreisel rotierend durch den Raum schießt. Eineinhalb Stunden lang dreht sich der Protagonist der Truppe mit zeremonieller Handhaltung um die eigene Achse. Im Kopf des Zuschauers werden alle Bewußtseinsinhalte an den Rand geschoben, das Zentrum der Konzentration bleibt leer.

Klimenko, Schüler von Anatolj Wassiljew, begrüßt das Publikum als Kirchengemeinde und sagt, Geburt, Tod und der Weg zu Gott seien die einzig möglichen Themen des Theaters. Unter den anderen russischen Theaterleuten stieß seine Polemik gegen die Intellektuellen und seine nationalistisch- religiösen Anschauungen auf heftigen Widerspruch. Nach dieser Aufführung zu urteilen, übernimmt das russische Theater mit stillem Pathos auch wieder die Rolle des Messias, obwohl seine gesellschaftliche Funktion nur mehr die des Narren ist.

Weitere Aufführungen: Rockkonzert Mamonov und Alexei: 16. und 17. Mai im Theater im Raffelbergpark Mülheim/Ruhr