Das Scheitern des Mannes als Mensch

■ betr.: "Unterricht gegen den Lärmpegel von 72 Dezibel", taz vom 10.5.93

betr.: „Unterricht gegen den Lärmpegel von 72 Dezibel“,

taz vom 10.5.93

Der Autor behauptet: „Vom Stolz auf den schönen und starken Körper ist es nur ein kleiner Schritt zur Enttabuisierung körperlicher Gewalt.“ Der Satz steht im Zusammenhang mit polemisierenden Bemerkungen zur Fitneßkultur. Bodybuilding, Kampfsport, für den Autor scheint das alles dieselbe, angeblich Gewalt fördernde Chose zu sein.

Ist denn nicht bekannt, daß gerade die Kampfkünste die Fähigkeit zur Selbstdisziplin und somit auch die Fähigkeit zur Kontrolle aggressiver Affekte stärken? [...] Die Studie, die beweisen würde, daß es die mit sich selbst und ihrem Aussehen und ihrem Körpergefühl in Einklang Befindlichen seien, die die haßerfülltesten Gewalttäter abgäben, möchte ich erst mal sehen! Gisela Haehnel, Köln

[...] Im Artikel geht es um Schule als staatsbejahende Institution, um „krude Formen der Vergesellschaftung, Sex-and-Crime-Mix der privaten Medien, Absahnmentalität im Volke“ und deren Verschuldung durch „die Konservativen“ – um verwöhnte, brabbelnde, sich umherlümmelnde, selbstsüchtige Monster, die in „Jugendcliquen jeglicher Couleur“ sich in geistlosen Gewaltkulturen suhlen: Feindbild SchülerIn!

Als Diözesanleiter eines SchülerInnenverbandes ist es für mich keine neue Erkenntnis, daß SchülerInnen in dieser Gesellschaft keine Lobby haben. Dummdreist dargeboten – weil einseitig und falsch – reiht sich Werners Plädoyer in die Phalanx derer ein, die auf den Rücken der Jugendlichen das Versagen ihrer eigenen Gesellschafts- und damit Bildungsentwürfe austrampeln. Dazu zwei Bemerkungen:

1. Das konventionelle Schulsystem basiert auch in der BRD auf Prämissen wie: „Lehrende wissen alles, Lernende wissen nichts“, „Wissensvermittlung vollzieht sich über verbale Belehrung, durch Prüfungen gemessen“, „Angst und repressive Autorität als Mittel der Leitung im Klassenzimmer; sowenig Vertrauen wie möglich“, „Der Mensch besteht nur aus Verstand“. Erziehung zur Unmündigkeit ist die durchaus logische Folge dieses Systems.

2. Wenn – vor allem männliche(!) Jugendliche heute zu Gewalt greifen, um das Gefühl der eigenen Ohnmacht zu überwinden, um gestaltend in ihren Lebenswelten tätig zu sein, hat dies viel mit dem zu tun, was ihnen in ihrer Sozialisation – im Elternhaus / Schule / Konsumwelt – als Männer(!) vermittelt wurde. Es ist aber zunächst ein Aufbegehren dagegen: stets nur unmündig gemacht zu werden! Wohlgemerkt: Ich verurteile Gewalt unbedingt. Aber ich denke dabei auch an Brecht: „Der Sturm, der die Birke biegt, gilt für gewalttätig, aber wie ist es mit dem Sturm, der die Rücken der Straßenkinder biegt?“

Dies alles vermisse ich in Werners Artikel. Unser Schulsystem ist strukturell gewalttätig: es unterdrückt Creativität, Verantwortungsbereitschaft, Lern- und Wißbegierde, soziales Lernen, Selbstbestimmung und bringt Menschen hervor, die als Erwachsene Probleme der Gesellschaft durch Reglementierung und den Rekurs auf eine „Einheitsjugend“ zu lösen bereit sind.

Aus all dem ergibt sich der positive Gegenentwurf: Eine Schule, in der SchülerInnen wie LehrerInnen in ihrer je eigenen Persönlichkeit und ihrem Anderssein geachtet und geschätzt werden, wird auch eine Gesellschaft initiieren helfen, in der demokratische Grundwerte nicht nur prüfungsrelevanter Unterrichtsstoff, sondern erfahrene, angeeignete Realitätsbezüge sind.

Übrigens gibt es in unseren Schulen auch SchülerINNEN und LehrerINNEN – „Sprache, die für dich dichtet und denkt.“ (!) (Victor Klemperer) Bernd Hans Göhrig,

Diözesanleiter der Katholischen

Studierenden Jugend, Freiburg

Völlig unfreiwillig, denke ich, offenbart der Autor vor allem eines: das Scheitern des Mannes als Mensch. Denn: Würden Frauen Einzelkinder haben und Partner wechseln, wenn die Männer sozial verantwortungsbewußte, verläßliche und emotional reife Wesen wären und wenn auch Mütter von mehreren Kindern ein gutes eigenes Einkommen hätten? Vielleicht.

Da ein großer Teil der Männer unserer Gesellschaft aber im Zusammenleben so unzulänglich ist, wen wundert's, wenn die Knaben ebenfalls menschliche Krüppel werden (zum Glück nicht alle)?! Ihr Verhalten ist infantil, eine Trotzhaltung. Das Problem ist also die Menschwerdung des Mannes, die nicht als völlig illusorisch abgetan werden darf. Was wir brauchen, ist ein effektives Erziehungsprogramm für Knaben, das gesamtgesellschaftlich akzeptiert ist und endlich die Abkehr von dem, was wir als „Männlichkeit“ zur Genüge kennen und verabscheuen, beinhaltet. Dorothee Pilgram, Bielefeld