Schwule Männer wehren sich doch

Die erste umfassende Studie über Gewalt gegen Schwule räumt mit einigen Mythen auf  ■ Von Jean Jacques Soukup

Zwei Schwule schlendern über den Berliner Ku'damm. Der eine hat den Arm um die Schulter des anderen gelegt. Zwei Jugendliche, 17 und 18 Jahre alt, kommen ihnen entgegen und rufen: „Ihr schwulen Säue“ und „Aids-Schweine“. Oft ignorieren Schwule solche Pöbeleien, aus Angst vor weiterer Gewalt. Denn Beleidigungen sind häufig der Auftakt zu „tätlichen“ Angriffen: Als einer der Angepöbelten reagiert, die wartenden Täter zur Rede stellen will, schlagen und treten diese sofort zu: Wegen schwerster Gesichtsknochenbrüche muß einer der Schwulen wochenlang im Krankenhaus bleiben.

Schwule werden mit und ohne Waffen bedroht, angerempelt, gestoßen, umzingelt, zu unterschiedlichsten demütigenden Handlungen gezwungen. Drohanrufe und -briefe gehören ebenso zum Repertoire, wie eingeworfene Fensterscheiben.

Im August 1991 erhielt das Hannoveraner Schwulenzentrum „Home“ eine Bombendrohung: „Morgen um 9.00 Uhr spreng' ich alles in die Luft. Ich hasse Schwule. Ich bin ein Nazi“. Es blieb bei der Drohung. Im September 1990 wurde an die „Rosa Hilfe“ in Dortmund ein scharfes Bombenpaket geschickt. Durch Zufall fiel es bereits im Postamt auf und konnte durch ein Spezialkommando der Polizei gesprengt werden.

Im niedersächsischen Almstedt wurden im Haus eines HIV-positiven Schwulen die Scheiben eingeworfen und Parolen gesprüht: „Schweine raus, ab ins KZ“.

Die Studie „Antischwule Gewalt in Niedersachsen“, die im Auftrag des niedersächsischen Sozialministeriums erstellt wurde, macht die ganze Bandbreite antischwuler Gewalt deutlich. Autor der Studie, die in der kommenden Woche veröffentlicht wird, ist der Berliner Journalist Jens Dobler. Er wertete insgesamt 234 Fragebögen aus, die regionalen Schwulen-Zeitschriften beigeheftet und über lokale Schwulengruppen und Aids- Hilfen verteilt worden waren. Die häufigste Form antischwuler Gewalt ist das Schwulenticken: Gruppen von meist 15- bis 25jährigen Männern gehen mit Baseballschlägern, Schlagringen, Holz- oder Eisenstangen, mit Gas und Messern bewaffnet gezielt zu Schwulentreffpunkten und schlagen zu.

Nach dem Tatort Straße (24%) folgen Orte, an denen schwule Männer anonymen Sex haben, in Parks und in Klappen (23% bzw. 13%). Die Wohnung wird als Tatort von vielen Schwulen selbst unterschätzt: Acht Prozent der Gewalt findet in den eigenen vier Wänden statt. Die Täter sind oft aus Kneipen „abgeschleppte“ Männer, und oft spielt Raubabsicht eine Rolle. Jeder zwanzigste Vorfall ereignet sich in der Nähe schwuler Kneipen und Cafés. Vor allem junge Schwule erwischt es aber auch in der eigenen Familie (4%). Zu zwei Dritteln wird die Gewalt von Gruppen mit zwei bis fünf Tätern verübt, häufig zwischen 22 und 25 Jahren.

Das quantitative Ausmaß der Gewalt war anfangs unbekannt. Fast jedes Szeneflugblatt behauptete, die Gewalt nähme „in letzter Zeit dramatisch zu“. Sicher war aber anfangs nur, daß sie zunehmend wahrgenommen wurde. 61,1 Prozent der Befragten, so das Ergebnis der Studie, wurden in ihrem Leben ein- oder mehrmals beleidigt oder bedroht. Härter traf es jeden vierten Befragten: einmal oder mehrmals beraubt, erpreßt, überfallen oder vergewaltigt wurden 26 Prozent der Befragten. Eine Zunahme konnte mangels Vergleichsdaten nicht belegt werden.

„Schwule wehren sich nicht“, glaubten bislang viele Schwulenaktivisten. Jemand, der seine Homosexualität nicht als positiven Wert begreift, sei nicht in der Lage, sie zu verteidigen. Zu den überraschenden Ergebnissen der Studie gehört, daß die Hälfte der befragten Opfer eine — teils ungeheure — Wehrhaftigkeit an den Tag legten. Die Gründe der anderen, sich nicht zu wehren, unterschieden sich nicht von der übrigen Bevölkerung: beispielsweise, weil die Täter in der Überzahl waren.

„Schwule erstatten keine Anzeigen“, lautete eine weitere Annahme: Schwule hätten Angst davor, bei der Polizei belächelt oder selbst als mitschuldig angesehen zu werden. Dies traf jedoch nur für ein knappes Viertel der Befragten zu. Die Mehrheit versprach sich nichts von einer Anzeige und einer Strafverfolgung, oder ihnen war der Aufwand zu groß. Die Dunkelziffer, so die Studie, liegt — auch im bundesweiten Vergleich — bei 90 Prozent, die Anzeigebereitschaft steigt mit zunehmender Schwere des Deliktes.

Die Studie macht auch auf ein Thema aufmerksam, über das selbst in der Schwulenszene fast nicht gesprochen wird: Vergewaltigungen, deren Opfer schwul sind. Demütigung spielt hier — wie generell bei Vergewaltigungen — eine entscheidende Rolle: Im März 92 feiern Wehrpflichtige in einer Bundeswehrkaserne das Ende ihres Wehrdienstes. Kurz nachdem Armin (Name geändert) schlafen geht, folgen ihm drei andere in sein Zimmer und holen ihn aus dem Bett. Sie schlagen und treten ihn. Während Armin an Händen und Füßen festgehalten wird, zieht der Dritte Armin die Hose runter und reizt mit einem Handfeger dessen Penis, anschließend wird Armin der Handfeger in den After eingeführt. Weil er sich wehrt, werden ihm Arme und Beine verdreht. Armins Zimmermitbewohner stellen sich schlafend. Armin erlitt Verletzungen im Analbereich, eine Schädelprellung, Prellungen am Körper, Schnittwunden und eine stark blutende Wunde am linken Ohr.

Keines der neun Opfer (3,8 Prozent), die im Fragebogen eine Vergewaltigung angaben, erstattete Anzeige. In den schwulen Anti- Gewalt-Projekten, die seit vier Jahren in vielen Städten entstanden sind, ist bislang zuwenig diskutiert worden, welche Auswirkung die Gewalt auf die Persönlichkeit und das Sexualleben schwuler Männer hat. Mit späterer Angst, Depression, Verfolgungsgefühlen und Schreckhaftigkeit reagierten 13 Prozent der Opfer. Ein Drittel der Opfer gaben an, daß die Gewalt ihr schwules Leben verändert hat und sie sich seitdem einschränken. Sich also nicht mehr öffentlich als schwul zu erkennen geben (auch nicht als Paar oder Gruppe), nicht mehr zu schwulen Treffpunkten oder Kneipen gehen, keine Männer mehr mit nach Hause nehmen. Selbst die indirekt betroffenen Freunde reagieren erstaunlich häufig mit solchen Selbstbeschränkungen: Schwule wissen, daß die Opfer austauschbar sind.

Auch mit der anfänglichen Streitfrage, ob eine Zusammenarbeit mit der Polizei legitim ist, wird heute bundesweit pragmatischer umgegangen. Gespräche mit Polizeivertretern werden vielerorts geführt; auch gab und gibt es in verschiedenen Städten Fortbildungen für Polizisten in Kooperation mit schwulen Anti-Gewalt-Projekten.

Das Informationsniveau der befragten niedersächsischen Polizeivertreter zum Thema war insgesamt niedrig. So war die Vorstellung, daß es sich bei Vorfällen in Parks um Fehden zwischen Strichern und Freiern handele, also um Auseinandersetzungen im „Homosexuellen-Milieu“, weit verbreitet. Strich findet in Parks aber kaum statt. Die Vorfälle sind nahezu ausschließlich Überfälle durch „Schwulenticker“. Zudem machen Stricher und Freier als Täter nur einen geringfügigen Prozentsatz aus. Gravierende Folge des Irrtums: Täter werden im „Milieu“ gesucht, „Schwulenticker“ selten gefaßt. Die Studie empfiehlt, wie in Berlin einen festen Ansprechpartner für Schwulengruppen sowie für schwule Polizisten zu schaffen.

Vier von zehn befragten Opfern, die den oder die Täter im Gerichtssaal wiedertrafen, fanden das Strafmaß skandalös niedrig. Einer gab an, daß man ihn eher als Täter, denn als Opfer behandelte. Einer der häufigsten (Schutz-)Behauptungen der Täter, sie seien „unsittlich angemacht“ worden, wird oft Glauben geschenkt und führt zu Strafmilderung.

Niedersachsens Sozialminister Walter Hiller (SPD) erklärte, die Landesregierung werde die Studie „zum Anlaß nehmen, in der Lehrerfortbildung und in der Polizeiausbildung das Thema stärker zu berücksichtigen.“

Die Studie „Antischwule Gewalt in Niedersachsen“ ist ab Ende Juni lieferbar und kann kostenlos bestellt werden: Niedersächsisches Sozialministerium, Pressestelle, Heinrich-Wilhelm-Kopf-Platz 1, 3000 Hannover 1.