„Supermarkt der Drogen“ im Sumpf

Im südspanischen Huelva führt die EG ein Projekt zur Armutsbekämpfung durch / Wohnungsbau und Sozialarbeit in den Slums der andalusischen Stadt – doch die Arbeitslosigkeit bleibt  ■ Aus Huelva Antje Bauer

Am Fuß des Abhangs, zwischen der Reihe Sozialwohnungen aus Backstein und dem Ufer des Rio Odiel, liegen die weißen Häuschen der Siedlung „Marismas del Odiel“. Pinien, weißblühende Mandelbäume, auf dem Hügel grasen friedlich ein paar Pferde. Wo der Fluß in Sumpf übergeht, liegen kleine Boote im Schilf, ein Reiher steigt auf. Doch der kleine Jaime will nichts wie weg von hier. Vor wenigen Tagen hat ein Nachbarjunge ihm ein Messer an den Hals gesetzt und ihn gezwungen, ihm seine Sportschuhe zu überlassen.

Es waren stinknormale Plastikturnschuhe, noch dazu ziemlich ausgetreten. „Sie nehmen, was sie kriegen, und verkaufen es dann, um sich Stoff zu besorgen“, sagt Jaime sauer. „Manche halten einem auch eine Spritze mit Heroin an den Hals und drohen, einem den Schuß zu setzen, wenn man nicht alles rausrückt.“

„Sie“ leben nur einen Steinwurf von Jaimes Zuhause entfernt im Zentrum der Siedlung. „Hotel Suárez“ heißt dieses Viertel, in dem Gruppen ausgemergelter, abgerissener Jugendlicher den ganzen Tag lang in den engen, staubigen, unasphaltierten Gassen herumstehen. Auf die potenten Kunden wartend, die in ihren Autos durch die engen Straßen rasen, oder auf andere Unglückliche, die nicht wissen, woher sie ihren Schuß bezahlen sollen. Überall liegen Silberpapierchen und blutbefleckte Spritzen verstreut, daneben spielen Kinder im Dreck. Offene Gatter geben den Blick auf vermüllte, rattenverseuchte Innenhöfe frei. Bis vor kurzem bewegte sich Jaime ganz normal durch diesen Drogensupermarkt der Stadt. Sah den bleichen jungen Prostituierten nach und unterhielt sich mit den Nachbarinnen, die die Gasse fegten. Doch jetzt hat er Angst.

In den dreißiger Jahren erlebte Huelva, die am untersten Zipfel Spaniens, fast schon in Portugal gelegene Provinzstadt, einen Wirtschaftsboom. Bergbau und bald darauf Chemieindustrie zogen Arbeitssuchende aus den Dörfern an. Die neuen Zugezogenen legten in mühsamer Kleinarbeit die unbesiedelten Sümpfe, die sich zwischen dem Fluß Odiel und der Stadt erstreckten, notdürftig trocken und bauten sich dort Hütten. Im Sommer kam mit den Mücken aus den umliegenden Sümpfen die Malaria; im Winter zog das Wasser aus dem morastigen Untergrund in Fußböden und Wände.

Bei Regen quillt das Wasser durch die Fußbodenfliesen

Im Laufe der Jahrzehnte wurden aus den Hütten weißgekalkte Häuser mit Innenhof. Fragile Gebäude mit dünnen Wänden und Wellblechdächern – mehr trug der sumpfige Boden nicht. Die Bewohner der „Marismas del Odiel“, wie die Siedlung nach ihrem Ort genannt wurde, kachelten ihre Wohnungen in mühsamer Kleinarbeit aus, legten sich Wasser ins Haus, asphaltierten einige Straßen. Die Probleme blieben freilich großteils dieselben. „Als ich klein war, wurden hier, wo mein Haus steht, noch Garnelen aus dem Wasser gezogen“, berichtet die 26jährige Irene Luque. „Und auch heute noch quillt, wenn es regnet, das Wasser aus den Fußbodenfliesen. Bronchitis ist bei meinen Kindern schon chronisch, weil es so feucht ist.“

In den Gassen hängen Stromleitungen in großzügigen Bögen über die Straße, Kanalisation ist unbekannt, unbebautes Gelände ist mit Schrott übersät. So wie die „Marismas del Odiel“ am Rande der Stadt lagen, so blieben ihre Bewohner am Rande der Gesellschaft. Ohne Berufsausbildung, häufig Analphabeten, wurde es im boomenden Spanien immer schwieriger für sie, Arbeit zu finden. Fast 70 Prozent der 4.000 Bewohner der „Marismas“ sind heute beschäftigungslos. Seit Ende der siebziger Jahre hat die Siedlung ein weiteres Problem: Drogen.

Eine Viertelstunde Busfahrt entfernt, im Kongreßbau „Casa de Colon“ im Stadtzentrum von Huelva, dozieren andalusische Politiker über die „Marismas del Odiel“. „Man muß verhindern, daß die Leute von einem Pappslum in einen Backsteinslum ziehen. Wohnungsprobleme werden nicht allein durch neue Wohnungen gelöst – sie müssen von sozialen Maßnahmen begleitet werden“, sagt Juan Sebastián González, Leiter des „Stadtviertelplans Marismas del Odiel“.

Vor drei Jahren haben sich EG, andalusische Landesregierung und Stadtverwaltung von Huelva zusammengetan, um eine Lösung für die chronischen Probleme der Siedlung zu finden. Den Rahmen bildet „Armut 3“, ein EG-Programm mit vierjähriger Laufzeit und 110 Millionen Mark, die auf 41 in der gesamten EG verteilten Projekte verteilt werden.

Die diesjährige theoretische Debatte von Hunderten in diesen Projekten tätigen Sozialarbeitern zum Thema „Partnerschaft und Multidimensionalität“ wurde nach Huelva gelegt, weil die „Marismas del Odiel“ eins der Modellprojekte darstellen. Kampf gegen das Schulversagen, Unterstützung von Aktivitäten der BIs im Viertel, Hilfe bei der Arbeitssuche, Anleitung zur Selbstorganisierung stehen in Huelva als soziale Maßnahmen auf dem Programm, doch für die Bewohner der „Marismas del Odiel“ scheint vor allem der versprochene Bau von 204 Sozialwohnungen wichtig: Es wäre der erste sichtbare Schritt heraus aus dem Slum.

„Was passiert, wenn die Wohnungen gebaut sind?“

Die sozialen Maßnahmen sind bereits angelaufen und zeitigen vorsichtig erste Erfolge – seit in der Schule eine Gratis-Mensa eingerichtet wurde, hat sich der Schulbesuch der Kinder aus problematischen Familien erheblich verbessert, und die zu Projektbeginn gegründete Frauengruppe „La alegria“ hält nicht nur Nähkurse ab, sondern hat den Frauen des Viertels auch zu mehr Power verholfen. Der erhoffte Wohnungsbau scheiterte lange an bürokratischen Hürden. Die Gelder für die 204 Wohnungen sind nun bewilligt, der Staat hat der Gemeinde Huelva das Terrain abgetreten. Noch in diesem Monat soll mit dem Bau begonnen werden. „Und was passiert, wenn diese 204 erst mal gebaut sind? Werden wir dann wieder uns selbst überlassen?“ fragt José Quintero, stellvertretender Vorsitzender der Bürgerinitiative von „Marismo“. Die dort oben auf dem Podium sitzen, bleiben überzeugende Antworten schuldig.

Doch ob das Viertel damit aus seiner Armut herausfindet, ist eine andere Frage. „Für uns Frauen gibt es hier keine andere Arbeit, als putzen zu gehen oder in die Erdbeerplantagen. Für die Männer ist es auch nicht besser“, klagt Irene Luque. Was nutzt es, in einem Land mit 20 Prozent Arbeitslosigkeit Beschäftigungsmöglichkeiten für Analphabeten zu suchen?

„Natürlich ist es absurd“, gesteht Hans Romeyke ein, der in Weimar ein Projekt von „Armut 3“ leitet, „mittels einer bestimmten Sozial- und Wirtschaftspolitik die Leute durchs Netz fallenzulassen und sie hinterher mittels Sonderprojekten wieder hereinzuholen. Aber es ist doch besser, diese Projekte zu haben, als die Leute dort zu belassen.“

Aus mehreren Projekten in West- und Ostdeutschland sind Sozialarbeiter nach Huelva gekommen und verteidigen den „Modellcharakter“ und die Sensibilisierung in politischen Kreisen, die diese sozialen Experimente mit sich bringen. Im reichen Deutschland geht es den Projekten weniger um die Behebung krasser Armut wie in Huelva.

Vor allem in den neuen Ländern geht es um den Aufbau und die Vernetzung sozialer Initiativen, die nach dem Zerfall der DDR keinen Träger mehr hatten. Dort sind konkrete Maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit und Randgruppendasein gefragt.

Daß Armut nicht nur wenig Geld und wenig Chancen, sondern auch Vorurteile bedeutet, davon können die deutschen Sozialarbeiter ein Lied singen. Auch die Bewohner der „Marismas del Odiel“ müssen sich gegen das Image wehren, Delinquenten zu sein. „Wir sind zwar arm, aber ehrlich!“ verteidigt sich eine Frau im Sitz der Bürgerinitiative.

Zwei Busladungen voller Sozialarbeiter und eine weitere voller ausländischer Journalisten sind ins Viertel zu einer Ansicht vor Ort geladen worden. Von weitem dürfen die Besucher einen Blick auf das Viertel und die idyllischen Sümpfe dahinter werfen, dann umrundet der Reisebus die Siedlung, um daraufhin geradewegs den Sitz der BI anzusteuern. „Wir wollten hier nicht Dutzende Besucher wie durch einen Zoo durchführen“, erklärt ein Sozialarbeiter – der Verdacht, man habe den Ausländern den Anblick der ausgemergelten Junkies ersparen wollen, drängt sich jedoch auf.

Bremsschwellen gegen Kunden der Drogenhändler

Im Lokal der BI stehen lange Tische, die sich unter Tellern voller Kuchen und frisch gebrautem Kaffee biegen. An den Wänden wurden die Festgewänder für den Flamencotanz aufgehängt. Die Frauen der Organisation „La alegria“ reichen Kaffee, die Männer drücken sich am Eingang herum. An der Straße vor der BI werden gerade Sträucher und Bäume gepflanzt und gegossen – das machen die Jugendlichen hier, die fühlen sich dann auch für die Pflanzen verantwortlich, versichert ein junger Sozialarbeiter. Auf einer Bank sitzt eine Roma-Familie und sonnt sich – Feiertag wie in jedem normalen Dorf.

Doch die Fertigbaubaracke des Projekts ein paar Meter weiter hat vergitterte Fenster, ein Wachschutz steht davor. Auf die Straßen haben die Bewohner Bremsschwellen gemauert, damit die Kunden der Dealer nicht so schnell durchbrettern können. „Ich würde hier sofort wegziehen. Mit geschlossenen Augen“, versichert resolut eine junge Frau, deren Wohnung nur wenige Meter von der ersten Gruppe Junkies entfernt steht. „Hier gegenüber haben sie schon dreimal eingebrochen, hier hinter dieser Mauer fliegen jede Menge Spritzen rum, man ist überhaupt nicht sicher. Die Vorschule steht hier, mitten im Drogenviertel. X-mal haben wir Polizei angefordert, damit die Kinder wenigstens in Ruhe zur Schule gehen können, doch die kommt nicht.“

Die Vorschule ist ein niedriges Gebäude mit vergitterten Fenstern. Eisenpflöcke trennen einen kleinen Pfad an der Schule entlang ab – „den haben wir mühsam bei den Behörden erkämpft, denn hier kommen dauernd die Autos im Affenzahn durch, die hier Drogen kaufen“, erklärt die junge Frau. Daß das „Projekt Armut“ irgendwann einmal fruchtet, glaubt sie nicht. „Das wird nie gebaut. Seit vier Jahren reden sie darüber, aber es tut sich nichts“, schimpft sie.

Irene hingegen hat noch Hoffnung. „Wenn diese Wohnungen gebaut werden und andere abgerissen, dann sind die Straßen breiter, und die Polizei kann besser kontrollieren“, hofft sie, „und dann hört Marismas hoffentlich eines Tages auf, als Supermarkt der Drogen verschrien zu sein.“

Der kleine Jaime hofft, bis dahin die Fliege gemacht zu haben. Zwar hat er seine Turnschuhe wieder: Seine Mutter, Vorsitzende der Frauengruppe, hatte sie mit großer Autorität von dem Dieb zurückverlangt. Doch Jaime will weg. Am liebsten nach Schottland, wegen der Dudelsackspieler.