■ Grüne, Bündnis 90 und die „humanitäre Intervention“
: Bitte eine offene Debatte in Leipzig!

Interne Parteiabsprachen, ein kontroverses Thema aus der öffentlichen Beratung auszuklammern, und Kartellabsprachen in der Industrie haben ein gemeinsames Schicksal: sie funktionieren selten. Gerade Parteien mit „dialogischem“ Anspruch wie die Grünen oder das Bündnis 90 geraten hier in eine schier ausweglose Lage. Wird Harmonie verordnet, knirschen die kritischen Geister so laut mit den Zähnen, bis die Medien aufmerksam werden und der innerparteiliche Streit trotz guter Vorsätze ausbricht. Daraufhin wird der Partei von den Medien Politikunfähigkeit attestiert. Wird aber von vorneherein mit der gebotenen Schärfe diskutiert, so ist – ohne Umweg – das Ergebnis in der Öffentlichkeit das gleiche.

Dies vorausgesetzt, hätten die Verhandlungsdelegationen der Grünen bzw. des Bündnis 90, als sie die Regie des Leipziger Vereinigungs-Parteitages berieten, gut daran getan, eine Debatte über die Frage zuzulassen, ob eine bewaffnete humanitäre Intervention im Rahmen der UNO zugunsten der bedrängten bosnischen Muslime unabweisbar ist oder ob, aus grundsätzlichen wie aus pragmatisch-politischen Überlegungen, am Prinzip der Gewaltfreiheit festgehalten werden muß. Unbestreitbar hätte ein solcher Entschluß Risiken eingeschlossen. Denn bei der Interventionsfrage geht es im Milieu der Grün-Alternativen nicht um eingrenzbare politische Kalküle, sondern um sich ausschließende, moralisch aufgeladene, existentielle Entscheidungen. Und, noch gravierender: Die Trennungslinie verläuft nicht quer zu den Vereinigungspartnern, sondern zwischen ihnen.

Daher die Bereitschaft der Interventionsbefürworter in den Reihen des Bündnisses, die Ausklammerung und Vertagung des Themas zu akzeptieren. Aber gerade die gewitzten Theologen unter den Bürgerbewegten hätten um die Neigung ihrer Mitstreiter wissen müssen, Zeugnis abzulegen. Wolfgang Poppe, Petra Morawe und Lukas Beckmann blieb nach einem Besuch Bosnien-Herzegowinas nur Luthers Erklärung auf dem Reichstag zu Worms.

Daß Grüne wie Anhänger des Bündnis 90, die Fünfprozentklausel vor Augen, inhaltliche Klärungen dem Ziel der Vereinigung unterordneten, war verständlich, führte aber zur Blindheit vor der emotionalen wie politischen Dynamik der Interventionsfrage. Jetzt, nach dem Eklat, gibt es nur eine Lösung: die Debatte ohne Wenn und Aber. Die Aktivsten der Grünen wie des Bündnisses brauchen die negativen Wirkungen des Streits in der Öffentlichkeit diesmal nicht zu scheuen – die meisten ihrer Anhänger und potentiellen Wähler schwanken, brauchen die weitere Debatte und rufen nach ihr. Nur eines wäre tödlich: der verdeckte Kampf, ausgetragen über die Tagesordnung des Kongresses. Christian Semler