■ 100.000 Blauhelme für Bosnien-Herzegowina!
: Schutzzonen statt Bomben

Der Kampf um die letzten Städte und Regionen in Bosnien- Herzegowina, die noch nicht unter serbischer oder kroatischer Kontrolle stehen, hat begonnen. Es scheint sich der Verdacht zu bestätigen, daß die serbischen Freischärler und Serbien – in geschickter „Arbeitsteilung“ – weiterhin auf Zeit spielen und der Krieg und die Vertreibungen, auch durch Kroaten, fortgesetzt werden.

In dieser Lage wird der Ruf nach einer militärischen Intervention immer lauter. In den westlichen Hauptstädten wird – auf Initiative der USA – vor allem über ein gezieltes Bombardement der bosnisch-serbischen Stellungen und der Nachschubwege (Brücken) zwischen Serbien und Bosnien nachgedacht. Auch ist eine Lockerung des Waffenembargos zugunsten der bosnischen Regierung im Gespräch. In dieser Debatte spielen grundsätzlich drei Optionen eine Rolle.

Option 1: Die internationale Staatenwelt beschränkt sich auf humanitäre Hilfe und nimmt das Scheitern des Vance-Owen-Plans zum Anlaß für den politischen Rückzug. Sie überläßt die Region weitgehend sich selbst, konzentriert sich auf die nicht-militärische Einmischung, hofft auf die Wirkung des Embargos und versucht, ein Überspringen des Krieges auf angrenzende Gebiete zu verhindern. Das bedeutet aller Voraussicht nach, daß der Krieg dann beendet ist, wenn eine Seite gesiegt und die andere kapituliert hat oder wenn er sich nach endlosem Gemetzel „ausgeblutet“ hat. Dies ist – grosso modo – eine Position, die von den Regierungen in den europäischen Hauptstädten und von den meisten Militärs geteilt wird. Dieser etwas zynische Konservativismus trifft sich de facto mit der Einstellung vieler aus der Linken, der Friedensbewegung und dem Pazifismus, die aus unterschiedlichen Motiven gegen militärische Einsätze argumentieren.

Wir halten diese Position politisch für einen schweren Fehler. Sie schafft einen Präzedenzfall dafür, daß Eroberungen und Grenzverschiebungen mit kriegerischen Mitteln toleriert werden, und untergräbt damit eine der zentralen Bedingungen für eine Ordnung des Friedens in Europa. Sie ist aber auch ethisch fragwürdig, weil mit ihr entweder mit Schulterzucken oder aus abstrakten pazifistischen Prinzipien heraus nicht der Versuch gemacht wird, in einer konkreten und extremen Notlage Menschen vor der Ermordung und Vertreibung zu retten.

Option 2: Die westlichen Staaten stärken über Waffenlieferungen die bosnische Seite und versuchen, über „selektive Luftangriffe“, die bosnischen Serben zum Einlenken auf den Vance-Owen- Plan zu veranlassen. Parallel dazu werden die Schritte zur wirtschaftlichen und politischen Isolierung Serbiens intensiviert. In ihrem militärischen Teil ist diese Option sehr problematisch. Sie birgt ein hohes Eskalationsrisiko und die Gefahr, die Zivilbevölkerung zu treffen, wenn sie militärisch „effektiv“ sein soll, und militärisch „nutzlos“ zu sein, wenn sie allein „symbolisch“ ist.

Option 3: Sie wurde – in ihren Grundzügen – von einer Erkundungsmission des UN-Sicherheitsrats vorgeschlagen und besteht aus einer Ausweitung des Konzepts der „Sicherheitszone“ auf diejenigen Gebiete, die noch unter Kontrolle der bosnischen Regierung stehen. Wir plädieren für diese Option, weil mit ihr – trotz des Einsatzes militärischer Mittel – die Rettung von Hunderttausenden ermöglicht wird, die Eskalationsrisiken kontrollierbarer erscheinen und die Grundlagen für politische Regelungen nicht von vornherein zerstört werden.

Diese „erweiterte humanitäre Intervention“ bedeutet im einzelnen: Im Gegensatz zu den Beschlüssen des Sicherheitsrats, Tuzla und andere Städte zu „sicheren Zonen“ zu erklären, ohne die militärischen Mittel bereitstellen zu wollen, mit denen sie gesichert werden sollen, müßten die Vereinten Nationen den Beschluß fassen, die Zahl der Blauhelmsoldaten in Bosnien-Herzegowina auf mindestens 100.000 zu erhöhen. Die UNO-Soldaten würden in alle Gebiete und Städte verlegt, die noch unter bosnischer Kontrolle stehen. Durch ihre Anwesenheit sollen sie deren Eroberung und Einverleibung in ein „Großserbien“ und „Großkroatien“ verhindern und damit die Vertreibung der muslimischen Bevölkerung durch serbische und kroatische Soldaten/ Freischärler unterbinden. Die UN- Truppen sind mit schweren Waffen ausgerüstet; sie sollen in der Lage sein, sowohl sich selbst als auch ihren Auftrag (mission defense) verteidigen zu können. Sie unternehmen jedoch keine Angriffe gegen die serbische Seite, der damit die Eskalationsentscheidung zugeschoben wird. Die Versorgung dieser Gebiete soll notfalls durch militärisch geschützte Korridore erfolgen. Das Militär der bosnischen Muslime wird von den UN-Truppen kontrolliert und kann später mit der Demobilisierung der anderen Kriegsparteien entwaffnet werden.

Die Stationierung sollte unabhängig davon erfolgen, ob die bosnischen Serben dem Vance-Owen- Plan zustimmen oder nicht. Auf der Basis dieses (militärischen) Konzeptes könnte ein Waffenstillstand entlang des gegenwärtigen Frontverlaufs erzwungen werden. Es ist jedoch davon auszugehen, daß die Stabilisierung des Waffenstillstandes Zeit braucht. Währenddessen können die wirtschaftlichen und politischen Mittel zur Herstellung von mehr Machtsymmetrie ihre Wirkung entfalten. Sie bestehen nach unserem Vorschlag darin, das UN-Embargo lückenlos einzuhalten und Rest-Jugoslawien diplomatisch völlig zu isolieren.

Der militärische Auftrag der UN-Truppen wäre auf die Sicherung der gegenwärtig noch muslimischen Gebiete beschränkt, es ginge nicht um die Rückeroberung serbisch besetzter Städte und Dörfer – was Krieg gegen Serbien mit einem nicht abzuschätzenden Risiko eines „Flächenbrands“ auf dem Balkan bedeuten würde. Vielmehr sollte mit der UN-Sicherung des muslimischen Restbosniens überhaupt erst einmal eine Voraussetzung für eine politische Lösung geschaffen werden.

Auf der 2. Stufe sollte die „Erweiterte humanitäre Intervention“ in eine UN-Treuhänderschaft für Bosnien-Herzegowina übergehen. Politisches Ziel ist eine Konfliktregelung auf der Verhandlungsgrundlage des Vance-Owen-Plans. Auch dazu wird die Blauhelmtruppe von 100.000 Soldaten notwendig sein. Voraussichtlich wird es für die Truppen nicht allein um Selbstverteidigung gegen einzelne Angriffe gehen, sondern auch darum, die Durchsetzung einer politischen Regelung militärisch-polizeilich abzusichern. Im Falle des endgültigen Verfalls der staatlichen Ordnung in Bosnien, der nicht auszuschließen ist, ginge es auch um die Übernahme von Polizei- und Ordnungsfunktionen. Neben den Soldaten ist hierfür eine schwer abzuschätzende Zahl von zivilen Beratern notwendig.

Wer in dem Krieg um Bosnien politisch wie militärisch etwas bewirken will, kommt um den Einsatz von Bodentruppen nicht herum. Unter den genannten Optionen halten wir unseren Vorschlag für am besten geeignet, defensiv und nicht eskalatorisch zu wirken. Der Vorschlag enthält auch erhebliche Risiken. Umfang, Dauer und Kosten des UN-Einsatzes sind nicht sicher zu prognostizieren, und das Risiko eines allgemeinen Landkrieges in Bosnien läßt sich nicht völlig ausschließen. Andererseits geht es um die letzte Chance, dem Völkermorden Einhalt zu gebieten. Peter Schlotter

Hans-Joachim Schmidt

Mitarbeiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung