Fluchtburgen als letzter Ausweg

■ Schulsenatorin Raab besuchte Kinder-Strafkolonie in St. Petersburg / Kein Gefängnistourismus

in St. Petersburg / Kein Gefängnistourismus

Zwei Monate ist es her, daß die Jugendbehörde offiziell die Patenschaft für die Aktion „Fluchtburg St. Petersburg“ der Hilfsorganisation „Psalm 23“ übernommen hat, die sich um verwahrloste Straßenkinder in der Partnerstadt kümmert. In dieser Woche besuchte Jugendsenatorin Rosemarie Raab, um sich ein Bild von der Situation der Jugendlichen zu machen.

Ihre Erkenntnis: Nicht nur in den berüchtigten Jugendgefängnisse Petersburgs leben die Jugendlichen unter menschenunwürdigen Bedingungen. Auch in der Stadt selbst sind die Lebensverhältnisse denkbar schlecht, die von der Petersburger Stadtverwaltung eingerichteten vier „Fluchtburgen“ sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Von diesen betreuten Jugendwohnungen, so Raab, müßte es viel mehr geben. Sie könnten die Keimzelle für eine Jugendhilfestruktur sein, die in der Stadt an der Neva praktisch nicht existiert.

Wie berichtet, gibt es in Petersburg 10 000 Straßenkinder, die, sich selbst überlassen, oft schon wegen kleinster Diebstähle für zwei, drei Jahre ins Gefängnis kommen. Das russische Strafrecht — dringend reformbedürftig — erlaubt es, selbst Elfjährige einzusperren. Der Petersburger Abgeordnete Alexander Rodin hatte Ende März bei seiner Durchreise zum Europaparlament die Zustände im Untersuchungsgefängnis Lebeveda angeprangert: bis zu 23 Kinder hausten in 10 Quadratmeter großen Zellen. Die Ernährung sei mangelhaft. Nicht selten würden Ratten oder Würmer in Essen gefunden, viele Kinder hätten nicht mal eine Bettdecke. Der Zutritt zu dieser Haftanstalt wurde der Senatorin nicht gewährt. Allerdings erfuhr sie vor Ort, daß inzwischen von „Psalm 23“ Medikamente verteilt und Anwälte vermittelt werden.

Die Schulsenatorin — für die im offiziellen Programm nur Theater- und Balletbesuche geplant waren — zeigte gestern Verständnis für die abwehrende Haltung der Petersburger. Die Medienberichte hätten bei Hilfsorganisationen einen regelrechten Gefängnistourismus ausgelöst. Außerdem habe es die Erwartung gegeben, daß sie mit einer „anklagenden Haltung“ komme. Dabei würden die dortigen Behörden selbst von der wachsenden Verelendung überrannt. Neben der Vereinbarung eine fachlichen Austauschs habe ihre Aufgabe nun darin bestanden, mit Gesprächen den Boden zu bereiten, damit „Psalm 23“ überhaupt die Chance hat, „Fluchtburgen“ zu bauen. kaj