Ein Kopfkissen, einige Bücher und ein Tanzhaus

■ Das Theater Skoronel eröffnete die Veranstaltungsreihe „Tanz in den Hackeschen Höfen“

Hackesche Höfe, 2. Hinterhof, 3. Stock: In einer kahlen Fabriketage tanzt, singt und erzählt das Tanztheater Skoronel vom Leben des Dichters Giacomo Leopardi. Fünf TänzerInnen und SchauspielerInnen schreiten, zwängen und rollen sich durch das Publikum: Stühle gibt es nicht, die ständig wechselnden Spielorte sorgen für ein bewegtes Hin und Her. Er habe die Hölle mit den Melodien des Himmels besungen, schreibt ein Leopardi-Biograph. Draußen blitzt und donnert es, auch Fenster können für ein Theater von Vorteil sein, denn eine bessere Kulisse ist für „Polar – Die Nacht des Giacomo Leopardi“ kaum vorstellbar.

Mit schlaff herabhängenden Armen und Händen versuchen zwei Tänzerinnen sich mit Briefen durch den Raum zu bewegen. Sie tragen das Papier zwischen den Zähnen und klemmen es zwischen Kinn und Brustkorb, begleitet werden ihre körperlichen Verzerrungen von Zitaten aus Leopardis Briefen: Über seine schmerzhafte Krankheit, seine finanzielle Not und seinen Selbsthaß. „Sechzehn Monate entsetzlicher Nacht“ verbringt Leopardi 30jährig im Elternhaus in Renecati, in das er aus gesundheitlichen und finanziellen Gründen zurückkehren mußte. Für den Spott und den Jammer mit dem Leopardi – bucklig, sehschwach und asthmatisch – der eigenen Existenz begegnet, findet das Tanztheater Skoronel eindringliche Bilder. Ein großes weißes Kopfkissen als Ort der Krankheit, ein Stapel Bücher für die Rettung in die Gelehrsamkeit und Papier als einziger Kontakt zur Außenwelt reichen als Requisiten im leeren Raum zur Beschreibung.

Skoronels Auftritt ist der erste von vielen, die in den nächsten Wochen in der Veranstaltungsreihe „Tanz in den Hackeschen Höfen“ zu sehen sein werden. In einer für zwei Monate leerstehenden Fabriketage wird für kurze Zeit ein „Tanzhaus“-Traum wahr: einem breiten Spektrum an Tanzgruppen wird die Möglichkeit zu Experimenten und Aufführungen geboten. Zwölf Gruppen und SolotänzerInnen zeigen ihre Produktionen, Improvisationen und lecture demonstrations. Praktisch ohne Geld, aber mit viel Lust an der Kunst, ist den Tanzhaus-Machern mit nicht viel mehr als einem leeren Raum und einer Lichtanlage eine außerordentliche Programmreihe gelungen. Fünf Premieren wird es geben, die erste an diesem Samstag mit Sascha Waltz' „Bungalow“.

Die Gruppen tanzen ohne finanzielle Absicherung – aus Liebe zur Sache sozusagen. Die Sache, oder vielmehr die Idee ist das „TanzHaus Berlin“. Mit dem Ziel, eine Infrastruktur zu entwickeln, die der freien Tanzszene kontinuierliches Arbeiten auf professionellem Niveau ermöglichen soll, wurde das Tanzhaus-Konzept Anfang der neunziger Jahre entwickelt. Orientiert hatte man sich an europäischen Tanzhäusern wie „The Place“ (London), „Theatre Contemporaire de la Danse“ (Paris) und „Dansens Hus“ (Stockholm), die Hervorragendes für den Tanz in ihren Ländern geleistet haben. Vorgesehen waren und sind Proberäume und Studiobühne, ferner soll das Tanzhaus als Informations- und Beratungszentrum dienen. Ein Archiv, eine Videoabteilung und eine Bibliothek sind im Entstehen. Das Konzept stieß auf die Zustimmung des Senats, und in den Koalitionsvereinbarungen von CDU und SPD galt die Errichtung eines Tanzhauses als ausgemachte Sache. Ein Büro in den Hackeschen Höfen und zwei ABM-Stellen waren der erste schnelle, kleine Schritt – doch über diesen Anfang ist es nie hinausgekommen.

Im Juli laufen die ABM-Stellen aus – Tanzhaus ade? Sollte dies der Fall sein, muß sich die Tanzszene auch an die eigene Nase fassen: der Forderung des Senats, dem Tanzhaus eine eigene Rechtsform als Verein zu geben, wurde nicht nachgekommen. Die Idee eines unabhängigen Tanzhauses mit einer eigenständigen künstlerischen Leitung (wie es jetzt im Theater am Halleschen Ufer der Fall ist) stehen die Eigeninteressen der freien Gruppen entgegen, die sich einen Zugriff auf die Entscheidungen über die Vergabe der Proberäume und der Studiobühne sichern wollen. Das in den Selbstverwaltungsmodellen die künstlerische Arbeit stagniert, derweil fähige Leitungspersonen wie zum Beispiel Dieter Buroch am Mousonturm in Frankfurt oder Bertram Müller von der „Werkstatt“, Düsseldorf, dem Tanz reichlich Aufwind gegeben haben, war eines der Arbeitsergebnisse des Tanzsymposiums, das Mitte Februar im Podewil stattfand. Daraus sollten Konsequenzen gezogen werden – doch vorerst gibt es das Tanzhausprojekt eh nur auf dem Papier.

Räume stehen in Aussicht: die Restitutionsangelegenheit Hackesche Höfe hat nach langwierigen Prozessen endlich ein Ende gefunden und der Senat verhandelt nun mit den neuen Eigentümern. Die zwei Etagen der im vergangenen Jahr in Konkurs gegangenen Folkloregruppen „Tanzensemble der DDR“ sind für das Tanzhaus vorgesehen, doch selbst, wenn man sich mit den neuen Eigentümern einig wird: wer soll das bezahlen? Eine fünfzigprozentige Kostenübernahme durch den Bund wäre eventuell möglich, doch die muß erst beantragt werden, und das ist bis heute nicht passiert. Die Mühlen des Beamtenwesens mahlen langsam – aber mahlen sie überhaupt? Das Berlin das Tanztheater als Bestandteil einer Metropolenkultur braucht, ist auch die Meinung des Senats. Die explodierenden Gewerbemieten und die zunehmende Raumnot machen das Tanzhausprojekt dringender denn je. Michaela Schlagenwerth

Heute um 20.30 Uhr: „Bungalow“ von Sascha Waltz, im Tanzhaus, Rosenthaler Straße 40–41