Der Blick von unten

■ Zu einer Lesung von Jürgen Fuchs

Für die Literatur in der einstmaligen DDR gab es eine Überfülle von Tabuthemen, die tunlichst zu meiden waren. Wer dennoch Realität nicht nur partiell wahrnehmen wollte, mußte mit Konsequenzen rechnen. Im Fall des Schriftstellers Jürgen Fuchs sahen sie so aus: Relegierung von der Universität in Jena, Zurücknahme erster Veröffentlichungsmöglichkeiten, nach Biermanns Ausbürgerung 1976 Stasi-Haft, Abschiebung in den Westen, wo er als Sozialpsychologe und Autor lebt, bis 1989 Observationsobjekt und Feindperson für das Mfs. Donnerstag abend las er im Brecht-Haus in Weißensee aus seinem Buch „Das Ende einer Feigheit“.

Wie schon im vorausgehenden Band „Fassonschnitt“ geht es um die Armee, das große verschwiegene Thema in der DDR. Ein Rekrut erlebt die ersten Tage des Menschenschindens: seine Gegenwehr ist das Gedächtnis, das genaue Hinschauen jenseits der großen Worte. Im „Ende einer Feigheit“ ist der Erzähler nun Student und wird durch die obligatorische Militärausbildung im dritten Semester erneut aus dem Alltag gerissen. Aus Kommilitonen werden Vorgesetzte, das Spiel beginnt erneut. „Man muß eine Erfahrung zweimal machen? Ja, bis man es weiß. Bis du weißt, warum du mitmachst. Weil ich muß. Weil ich nicht gegen sie ankomme. Weil ich studieren will. Noch mal von vorn! Bis du begreifst, was sie aus dir machen. Was du aus dir machen läßt. Was du mit anderen machst.“ Und Fuchs beschreibt es: die tobenden Militärs in diesem „Sozialismus der Unteroffiziere“, die freundlichen Kumpels, die die Minen legen, vorn im Todesstreifen. Dabei ist das Buch keine Reportage; eingefügt in den Text, wird immer wieder ein ästhetisches Problem verhandelt: Wie soll man mit all diesen Erfahrungen umgehen? Ins Allgemeinmenschliche abgleiten, großartige, entschärfte Metaphern finden, geschichtsphilosophische Thesen von der Bühne herunterdonnern lassen? Fuchs entschied sich für den anderen Blick, für den von unten, dort wo man die Metallverstrebungen des Soldatendoppelstockbettes über sich sieht. Wo es zur Sache geht: bei den Apellen und Vergatterungen, bei den „kleinen Lügen, die morgens um halb zwölf gelogen werden“. Jürgen Fuchs ist ihr genauer Chronist geworden, nie moralisierend, stets die eigene Anfälligkeit für den Kniefall gnadenlos hinterfragend, unbestechlich und human. Als er im Dezember 1989 wieder einreisen darf in die DDR, sagt er unter dem Beifall der dreitausend Besucher von Biermanns erstem Konzert in Leipzig: „Es gibt sie, die deutsche Opposition, die authentische Linke, die sich nicht korrumpieren ließ.“ Manchem mag das zu pathetisch gewesen zu sein. Er könnte sich dann vielleicht einmal die Gedichte, die Prosaminiaturen und Gedächtnisprotokolle dieses Schriftstellers, des Freundes von Robert Havemann und Manés Sperber, anschauen. Links im Sinne von machtkritisch und solidarisch ist das, programmatische Spreizung dabei stets vermeidend. Fuchs' Bücher sind Beispiele für eine Nichtverleugnung der deformierten Wirklichkeit, eine Nichtkapitulation vor Schreien und Schweigen auf hohem literarischen Niveau. Marko Martin