Dokumentation
: Ostberliner Perspektiven auf Leipzig

■ Wie Wolfgang Templin und andere Bündnis-90-Mitglieder ihren Vereinigungspartner AL erleben

Auf die Gefahr hin, als Gegner der Vereinigung mit den Grünen abgestempelt zu werden, haben wir uns frühzeitig kritisch in den Prozeß des Zusammengehens eingebracht. Als Mitglieder des Berliner GA und der Abgeordnetenhausfraktion sowie verschiedener Basisgruppen brachten wir unsere Ideen und Erwartungen in die Verhandlungsversammlung des Bündnis 90 und die Bundesdelegiertenkonferenzen ein. Der größte Teil unserer Energie ging in den Berliner Verhandlungen mit der grünen „Alternativen Liste“ drauf. Jetzt ist der Zeitpunkt für ein ernüchterndes Fazit gekommen. [...]

Am 23. April 93 kündigen eine Reihe von Abgeordneten und MitarbeiterInnen der Fraktion Bündnis 90/Grüne (AL)/UFV in einer öffentlichen Stellungnahme („Das Maß ist voll, der Traum geht weiter“) die Zusammenarbeit mit der Fraktionsvorsitzenden Anette Detering und ihrem Stellvertreter Uwe Lehmann auf.

Zwei Kernsätze ihrer Erklärung sind unbestreitbar richtig:

1. „Wir sind nicht in einem Ost- West-Konflikt...“

2. „Es geht um unterschiedliche Haltungen zu diesem Staat und dieser Gesellschaft.“

Weder die Ostberliner Mitglieder des Bündnis 90 noch die Westberliner Anhänger der Alternativen Liste lassen sich politisch auf einen Nenner bringen. Dennoch gibt es gemeinsame Erfahrungen und Werte aus der Zeit der DDR-Opposition und des Umbruchs, die für uns unverzichtbar sind:

1. Nach den Erfahrungen mit der real existierenden Diktatur in der DDR sind Rechtsstaat und Demokratie nicht einfach eine andere Kampfarena, sondern ein Zugewinn realer Freiheit und eine Errungenschaft, die wir nicht verspielen werden. Wir wurden lange genug mit exzessiver, unkontrollierter Gewalt konfrontiert, um nicht das Gewaltmonopol des Staates entschieden zu verteidigen. Demokratie dient für uns nicht nur als Mittel zu einem – wie gut auch immer gemeinten – Zweck. Ein solches instrumentelles Verhältnis zur Demokratie lehnen wir ab.

In diesem Verständnis wissen wir uns mit vielen Freunden westlicher Herkunft verbunden, die aus eigenen, anderen Erfahrungen lernen konnten. Von den numerisch knapp 3.000 Mitgliedern der Alternativen Liste wird eine ganze Menge unsere Haltung verstehen und unterstützen, aber es fehlt ihre politische Präsenz. Die Strukturen und die Kommunikationskanäle der Westberliner AL sind nach wie vor von einer linkskonservativen Minderheit dominiert, die sich mittlerweile hervorragend mit ihrem östlichen Pendant arrangiert hat. [...]

2. Ein Schlüsselproblem, um daß sich viele andere Konflikte ranken, ist das Verhältnis zur DDR- Vergangenheit. Hier zeigte sich schon bald, daß die Koalition zwischen dem linken Flügel der AL und DDR-Nostalgikern bestens funktioniert. [...] Die Verniedlichung des DDR-Unterdrückungsapparates nach dem Motto „in der BRD gab es auch Berufsverbote und Gesinnungsjustiz“ ist an der Tagesordnung. [...]

4. Bei der Verteidigung von Freiheitswerten und republikanischen Tugenden wenden wir uns gegen dirigistische Gleichheitsvorstellungen. Solidarität kann einer Gesellschaft nicht oktroyiert werden und muß von mündigen Subjekten ausgehen. Es geht um die Überwindung einer ideologischen Grundhaltung, vom Ziel her zu denken. Dies führt zu einer Politik, die nicht mehr die Menschen mit ihren konkreten Bedürfnissen im Auge hat, sondern aus Minderheiten und benachteiligten Objekte einer Erlösungspolitik macht. Für eine solche Politik stehen wir nicht zur Verfügung.

5. In der aktuellen Olympiadebatte in Berlin geht es schon lange nicht mehr um Argumente für oder gegen die Ausrichtung der Spiele. Es ist ein Glaubenskrieg entbrannt, der symbolhaft „das System“ anprangern soll. Die Aussage „Olympia verhindern“ macht so das Ergebnis der Debatte zu ihrem Ausgangspunkt, läßt Vernunftgründe für Olympia nicht gelten und gibt so einer Radikalisierung der Mittel Raum. [...]

6. Ein weiteres Erbe der Bürgerbewegung ist unsere Offenheit für Sachkoalitionen über die Parteigrenzen hinweg. [...]

Nach alldem muß klar sein, daß für uns eine Vereinigung auf Berliner Ebene nur als wirklicher politischer Neuanfang möglich ist. [...] Ein für beide Seiten akzeptabler Abschluß der Verhandlungen, ein Assoziationsvertrag, der die gegenseitigen Vereinbarungen verbindlich festschreibt und eine Bilanz der politischen Zielsetzungen, welche die Differenzpunkte und Konflikte nicht unter den Tisch kehrt, sind das Minimum.

Wir haben noch zuviel Lebenslust, um uns weiter in die Gruft ideologischer Geisterkämpfe ziehen zu lassen. Unser Zusammengehen sollte eine Chance und eine Einladung für Andere sein. Wenn es diesen Sinn nicht erfüllt, ist jeder andere Ausweg besser. Anette Detering MdA, Christian Pulz MdA, Wolfgang Templin, Ulf Dahlmann, Mitglied im GA Berlin