In viereinhalb Stunden nach Prag

■ Vom 23. Mai an rollen mehr Züge in die osteuropäischen Länder

„Das Heil kommt aus dem Westen“, erklärt die Dame aus Reinickendorf spitz. Sie meint es ironisch. Vielleicht ist es einfach die Nervosität: In wenigen Minuten wird der EC Berolina im Hauptbahnhof bereitgestellt, und um 16.22 Uhr beginnt die sechseinhalbstündige Reise nach Warschau. Vor dem Fall der Mauer, sagt die elegante ältere Frau, seien Züge nach Polen „knackvoll“ gewesen, „da stand man auf einem Bein“. Jetzt sitzt sie zwischen Posen und Warschau manchmal allein im Abteil; eine Vorstellung, die sie auch nicht beglückt. „Am liebsten würde ich ja Schlafwagen erster Klasse fahren. Aber das kann ich mir nicht leisten.“

Bahnfahren gen Osten ist anders geworden: angenehmer – und teurer. Die Hin- und Rückfahrt nach Warschau kostet in der zweiten Klasse 91,80 Mark, dazu kommen im Eurocity pro Strecke noch 13 Mark Zuschlag. Für viele Polen ist das unerschwinglich: Für Fahrten nach Deutschland nehmen sie lieber die billigen Busse. Dennoch wird vom 23. Mai an mit Gültigkeit des neuen Fahrplans täglich ein weiterer Eurocity zwischen Berlin und Warschau verkehren.

Leere Plätze gibt es unter der Woche auch in den Zügen nach Prag. Nur knapp zur Hälfte sei man dann ausgelastet, sagt ein Schaffner, „früher lag die Auslastung bei 80 Prozent“. Solche Zahlen werden derzeit nur freitags und sonntags erreicht, wenn zum Wochenende das Fernweh übermächtig wird und wenn mancher Deutsche, wie der junge Bahnbedienstete vermutet, in der Tschechei „eine billige Nummer schieben will“: Am „Männertag“ jedenfalls werde der Zug nach Prag voll sein. Der Preis für ein Retour-Billett: 105 Mark.

Ab 23. Mai startet dann alle vier Stunden ein Zug an die Moldau. Für einen Tagesausflug besonders zu empfehlen: Der neue EC Comenius, der um 6.15 Uhr vom Hauptbahnhof abfahren wird und um 10.53 Uhr in Prag einläuft. „Eine so kurze Fahrtzeit mit dem Auto“, sagt Reichsbahnmitarbeiter Emersleben, „das kann man sich doch abschminken.“

Zu den Städten, die sich als „Paris des Ostens“ verstehen, zählt auch Bukarest. Wer die 505 Mark teuere Rückfahrkarte in die rumänische Metropole löst, muß auf der über 35stündigen Reise allerdings auf einiges verzichten. „Die Waggons kommen aus Rumänien in so einem dreckigen Zustand an, da hilft auch die Reinigung hier nicht viel“, heißt es im Bahnhof Lichtenberg. Manche Fahrgäste verzichteten nach Besichtigung der Schlaf- und Liegewagen sogar auf die dort gebuchten Plätze. „Das sind Urwald-Züge“, klagt ein deutscher Schaffner.

Stolz und schmuck dagegen präsentieren sich die russischen Zugbegleiter vom Schlafwagen-Zug Moskwa, der täglich um 10.20 Uhr Lichtenberg verläßt (Ankunft in Moskau 32 Stunden später). Wie Schiffskapitäne promenieren sie neben den dunkelgrünen Waggons: Unter mächtiger Eisenbahnermütze mit goldfarbenem Emblem, im blütenweißem Hemd und mit dunkler Krawatte. Beförderungsentgelt: 442,40 Mark.

Aber vielleicht erreicht die wichtigste Fahrplanneuerung Berlin ja tatsächlich aus dem Westen. Von Braunschweig kommend, rollen am 23. Mai erstmals die weißen IntercityExpress-Züge ein; im Zwei-Stunden-Takt starten sie künftig achtmal von der Hauptstadt aus. Die Reisezeit ins 1056 Bahnkilometer entfernte München beträgt dann achteinhalb Stunden, eine Reduzierung um rund 30 Minuten. Rückfahrpreis: 492 Mark. Ohne Bahncard – für 220 Mark ein Jahr lang zum halben Preis fahren – ist das ein Service, der nicht billig ist.

Bahnkunden wie Mirella Schmidt aus Warschau können solche Billets kaum zahlen. Die 26jährige Jurastudentin reist einmal im Monat an die Spree, übernachtet bei Freunden und besucht Veranstaltungen an der FU und in der Urania. „Man hat mir gesagt, daß es gut ist, etwas vom deutschen Recht zu wissen.“ Mirella sitzt auf einer Treppenstufe im Hauptbahnhof und liest „Effi Briest“ von Theodor Fontane. „Ist das Buch gut? Ich habe es gefunden, in einer Mülltonne am Kurfürstendamm.“ Zugfahren sei nie langweilig, sagt Mirella. „Ich lese immer.“ Bernhard Landwehr