Zwischen den Rillen
: Dicke und dünne Liebeslieder

■ Liebe als Splatter-Blues mit PJ Harvey. Eine Betrachtung über Musik aus Körpersäften

Wahrscheinlich hatte Polly Jean Harvey weder Lust noch Zeit, das Modebuch des vergangenen Jahres zu lesen; weil sie während der Arbeit an ihrem zweiten Album „Rid Of Me“ in ein ungleich seltsameres vertieft war: ein Buch, das ihr ihr Produzent – Steve Albini – ohne Brief und Gruß über den Ozean gesandt hatte, als esoterischen Botschafter des gemeinsam zu Vollbringenden. Polly studierte die Bauchrednerei, während alle (Kunst-)Welt im Paglia-Fieber räsonnierte.

Die Kunst der ventriloquistischen Atemtechnik verfeinert den Noise-Punk-Blues der als mißtrauisch geltenden Britin PJ Harvey ohne Zweifel; und doch hört man den chthonischen Zauber von Pop/Geist/Blut, die Körpersäfte des autoperforierenden Kreativen, wie sie einem zur Zeit wieder in dieser und jener Galerie entgegenschlagen, unverhohlen aus den Eingeweiden von „Rid of Me“ stürzen. Das liegt daran, daß das Ei vor dem Huhn da war, sprich: Pollys markerschütternde Enttäuschung vor der performenden Wissenschaft sendefähig.

In PJ Harveys Musik herrscht der Krieg der Geschlechter, den Camille Paglia in „Die Masken der Sexualität“ neu erfunden glaubte, schon geraume Zeit; nur findet das Armageddon mehr gegenwärtig, im gemeinsamen Lebensabschnittsbett, statt.

Gleich der Titelsong „Rid of me“ macht klar, wie es um die Liebe in den Zeiten fairer Distanzkeulen bestellt ist: eine weibliche Stimme winselt „I beg you / my darling / don't leave me“, das alles zu Füßen des Geliebten, der aber „rid of the former beloved one“ ist. Sie fleht und heult die Oktaven entlang, bis die Pose des Demütigens im auf Schlagzeug und Bass gezürnten „Never“ implodiert. Das schaurig fiese Falsett zur Schlußzeile „Lick my legs / I'm on fire“ liefert Schlagzeuger Rob Ellis.

Hier greift keine bessere Lebenslüge von der intellektuellen Distanz, hier fliegen Fetzen, werden Song um Song Beine abgeschnitten, Köpfe umgedreht, Fleisch und Seele gerieben, bis es blutet (wirklich: „Rub Til it Bleeds“) – und zwar nicht nur auf der einen Seite des Grabens. Liebe als Splatter-Blues zerlegt das obskure Objekt der Begierde, bevor selbiges die Liebende verlassen kann.

Leiden kann man das nicht ohne weiteres nennen – da sei die Anachoretin Polly vor, die zwar den Feminismus als Massenbewegung verachtet, jedoch auf ihrem Debüt „Dry“ – unter manch anderem – auch „Sheela- Na-Gig“ bedichtete, die üppige, furchtbare Ur-Frau, die ihre alles verschlingende Ur-Vagina zeigt: Fürchtet Euch all!

Soviel Erbe an kompakter Gewalt macht die moderne Beziehungskiste nicht lustiger, die neue Platte (auf der es noch direkter persönlich kommt als auf „Dry“) aber schon wieder grotesk. Absichtsvoll übertrieben und verzweifelt glaubwürdig klingt „Rid Of Me“: dicke und dünne Liebeslieder, die immer zum guten dicken Ende finden. „How will you ever know!“ lautet die rhetorische Nicht-Frage an den nichtswürdigen Schuft, dem Polly doch mit Hingabe anhängt, womit sie ihr „I“ zerhackt – wieder die Oktaven rauf und runter.

Das in Konterbande mit psychedelischen Visionen kann schon beim ersten unreflektierten Hören in die Geisteskrankheit führen – wie erst beim Nachdenken! Zu dem man aber so schnell nicht kommt, weil einem erst einmal schlecht wird unter dieser fetten Walze des Unbewußten. Man nehme nur das Streicher-Stück „Man-Size Sextet“, das es auf derselben Platte gleich noch einmal in Gitarrenausführung gibt: „I want to fit / I want to bit / Man-sized / handsome / got my leather boots on“. Das soll eine Alice- im-Wunderland-Variation aufs Schrumpfen und Wachsen des Ichs (Identität dürfen wir hier ja nicht sagen) sein. Ein reichlich zorniger Blues (im Sinne eines Bewußseinszustands) wird inszeniert, der grausam und bar harmonisierender Traditionals Tempi und Lautstärke wechselt, Amphetamin aus Schlaftabletten dreht. Extreme Musik für extrem empfindende Zeitgenossen, von jener herben gefährlichen Erotik, die der Selbstzerfleischung eigen ist.

Chris Blackwell hat den Goldfisch Polly nach dem plötzlichen Erfolg von „Dry“ (100.000 Verkaufte weltweit) vom Too Pure-Label zum Major Island geholt. Das hat der Musik nicht geschadet. Die Dreier-Minimalbesetzung ist noch immer die der Anfänge (Steven Vaughan am Bass), und die Garagen-Credibility wirkt keinesfalls nachgereicht, wenn, wie beim vierten Track, ein bißchen auf die Aufnahme gehustet wird. Das eingangs erwähnte Atembuch aus der Hand des Produzenten Albini ist in einer theatralisch modulierenden Stimme anwesend, die klingt, als sei sie in den Hintergrund gemischt. Außerdem wird, um den Eindruck von weird zu präzisieren, roh durch den Verstärker gesungen.

Polly wird jetzt ganz groß gehandelt, auch schon mal als „Sexsturm“; allein der Waschzettel der Plattenfirma umfaßt drei Seiten. Nach schlimmen Zusammenbrüchen in London ist die ehemals streng-schwarze „Indie-Madonna“ („NME“) wieder auf die heimische Farm in Dorset gezogen, wo sie sich bleich und fragil mit Federboa, wehendem Haar, geschlitztem Rock und blindem Huhn im Arm vor der Schäfchenweide fotografieren läßt – Exegeten ans Werk!

Ist das nun todessüchtige Musik? Mitnichten, eher zum Heulen realistische. Oder: Der mindestens 48 Minuten währende Sieg der chthonischen Natur über die zivilisatorische Vernunft. Anke Westphal

PJ Harvey: „Rid Of Me“, Island/BMG Ariola