■ Das Problem der SPD ist mehr als Mattheit der Akteure: 1989 bebt immer noch nach
So brisante, so dramatische Vorgänge wie der Sturz von Björn Engholm und die Personaldiskussion in der SPD haben immer auch Nebeneffekte. Einer davon: Nicht nur der Sache oder den Personen gelten Bekenntnisse oder Kommentare, sie enthüllen immer auch Mentalitäten und tiefsitzende Einstellungen. Nicht ganz widerspruchsfrei, wie Haltungen es halt an sich haben, ertönt beispielsweise in und außerhalb der Partei der Ruf nach einer machtvollen und -willigen SPD gerade bei denen, die die deutsche Sozialdemokratie für so schwächlich halten, daß sie fast jede Hoffnung haben fahren lassen. Ein Paradox ist das nicht: Wer die Mattheit der Akteure für das Problem der SPD hält, muß folglich annehmen, ein entschlossener Parteichef könne das Blatt wenden. „Anpacken! Die Macht wollen! Kohl knacken!“ gilt in dieser Wahrnehmung als maßgebliche Richtschnur für die Entscheidung über den Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten der SPD. Die Sympathien liegen folglich bei Schröder, der verspricht, 1994 sei die Macht machbar, wenn man es nur wirklich wolle.
Ein Irrtum! Wenn die SPD nicht sieht, daß ihr zu mindestens zwei Dritteln schon entglitten ist, was 1994 noch erreichbar ist und was nicht, dann unterschätzt sie ihre Krise fahrlässig. So wie die Regierung Kohl vor allem auf die Schwäche der sozialdemokratischen Opposition vertrauen muß, ist umgekehrt das verläßlichste Kapital der SPD im Superwahljahr 1994 die Schwäche der Regierung Kohl. Das schöne Etikett Rot-Grün hindert daran, dieses Kapital voll auszuschlachten. Denn fromme Wünsche überzeugen selten, und schon gar nicht solche, die nur dazu taugen, einen Teil der CDU-müden Wählerschaft vor den Kopf zu stoßen. Helmut Kohl weiß seit 1987, als Kanzlerkandidat Rau mit dem Motto von der „eigenen Mehrheit“ durchs Land zog, wie er sich den halben Wahlkampf abnehmen lassen kann.
Politisch gestalten, so lautet der unschöne Befund im dritten Jahr der deutschen Einheit, können die beiden großen Lager nur in bescheidenem Maß. Die Personalentscheidung der SPD vor allem an die Kanzlerfrage 1994 zu knüpfen, das scheint offensiv und ist doch nur die dritte Auflage gut gemeinter Willkürakte. Die künftige Führung der SPD muß vor allem daran gemessen werden, ob sie die Volkspartei SPD über die Erschütterungen und Nachbeben von 1989 tragen kann. Dazu braucht es vor allem Ruhe, Zeit, Vertrauen. Diese Haltung hat, zugegeben, fast etwas Fatalistisches. Sie nimmt aber den wirklichen strategischen Vorteil der SPD ins Visier. Die Union hat die Kräche, Krisen und Konflikte nämlich noch vor sich. Tissy Bruns
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen