■ Zum Kompromiß bei den Metallern im Osten: Ein struktureller Erfolg
Die drohende Ausweitung des Arbeitskampfes in der ostdeutschen Metallindustrie auf ganz Ostdeutschland hat offensichtlich ernüchternd auf die Verhandlungsführer der Arbeitgeber von Gesamtmetall gewirkt. Ihre Hoffnung auf einen Zusammenbruch der gewerkschaftlichen Kampfmoral in der ostdeutschen Krisenregion hat sich nicht erfüllt. Im Gegenteil: Je länger der Streik dauerte, je mehr Betriebe und Regionen einbezogen wurden, desto deutlicher wurde die politische Dimension dieser Auseinandersetzung, desto mehr haben sich die Menschen in den neuen Bundesländern mit dem Kampf der Metaller identifiziert. Und seit in Westdeutschland Zehntausende während der Arbeitszeit gegen die Verwilderung der tarifpolitischen Sitten protestierten, war auch klar, daß es hier keine Spaltung zwischen ost- und westdeutschen Arbeitnehmern geben würde.
Die ursprünglichen Ziele der Arbeitgeber von Gesamtmetall waren sehr viel weiter gesteckt, richteten sich gegen den bindenden Flächentarifvertrag als strukturierendes Prinzip der industriellen Beziehungen in Deutschland. Dieser Angriff auf die tarifliche Mindestsicherung der abhängig Beschäftigten wurde nicht zufällig zunächst im Osten gestartet und ist fürs erste abgewehrt. Die zwischen IG Metall und Arbeitgebern vereinbarte Härteklausel erscheint wasserdicht: Sie ist tatsächlich auf Ausnahmefälle beschränkt und an die Zustimmung beider Tarifparteien gebunden. Einzelbetriebliche Erpressungsmanöver gegen die Belegschaften dürften damit weitgehend ausgeschlossen sein. Die Arbeitgeber haben sich auch mit ihrem zweiten zentralen Anliegen nicht durchsetzen können: Der Stufentarifvertrag als für die Menschen kalkulier- und einklagbare Perspektive der Lohnangleichung bleibt erhalten. Die Zementierung Ostdeutschlands als Niedriglohnregion ist mißlungen.
Dies alles können sich die Streikenden und die IG Metall als Erfolg zurechnen. Ohne eine gewerkschaftliche und zunehmend auch gesellschaftliche Mobilisierung, wie es sie seit der Wende in Deutschland nicht mehr gegeben hat, wäre das kaum möglich gewesen. Aber gleichzeitig beinhaltet der Dresdner Kompromiß materiell eine erhebliche Verschlechterung des bisher gültigen Tarifvertrages. Wer mit den zum 1.April ursprünglich vorgesehenen 82 Prozent gerechnet hat, wird umkalkulieren müssen. Die Lohnangleichung wird sowohl in diesem als auch in den kommenden Jahren erheblich gestreckt. Das mag ökonomisch vernünftig sein, wird aber an der gewerkschaftlichen Basis für Verbitterung sorgen. Der strukturelle Erfolg der IG Metall wurde mit schmerzlichen materiellen Einbußen bezahlt. Diese Zwiespältigkeit des Dresdner Kompromisses macht die kommenden Urabstimmungen spannend. Martin Kempe
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