Keine psychiatrische Begutachtung!

■ Beschäftigte aus dem medizinischen und sozialen Bereich widersprechen dem Druck auf RAF-Gefangene, sich psychiatrisch untersuchen zu lassen / Offener Brief an den Bundesgerichtshof (BGH)

Im Februar 1993 entschied das Oberlandesgericht(OLG) Düsseldorf im Strafaussetzungsverfahren der seit der Besetzung der deutschen Botschaft in Stockholm am 25.4.75 inhaftierten RAF-Gefangenen Hanna Krabbe, Lutz Taufer und Karl-Heinz Dellwo, diese nicht freizulassen. Sie häten sich, so das OLG in seiner Begründung, einer „gesetzlich vorgeschriebenen psychiatrischen Begutachtung“ verweigert.

Laut Paragraph 454, Abs.1, Satz 5 der Strafprozessordnung sind ebenso sozialwissenschaftliche bzw. psychologische Gutachten möglich. Die angebliche „Staatssicherheit“ steht kontra Recht auf Freiheit sowie medizinische, körperliche und psychische Unversehrtheit.

Der Versuch der Psychiatrisierung zielt darauf zu behaupten, daß die Straftaten aus einem krankhaften, sogenannten „abnormen“ Verhalten bzw. Persönlichkeit heraus geschehen sind, nicht aus einem politisch motivierten Handeln. In dem Urteil, das 1977 gegen die Gefangenen erging, wurde ausdrücklich festgestellt, es gäbe keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer geistigen Störung von Krankheitswert. So ist es absolut widersprüchlich, wenn das Gericht heute seine Entscheidung von einem psychiatrischen Gutachten abhängig machen will.

Wir sind der Auffassung: Die Gefangenen sollen zu Objekten der herrschenden Psychiatrie gemacht werden. Gegenstand der Entlassung ist aber eine politische und menschliche, nicht eine psychiatrische Entscheidung. Wenn überhaupt im Rahmen des Strafaussetzungsverfahrens eine sogenannte „Sozialprognose“ erstellt werden muß, wäre dafür höchstens ein sozialwissenschaftliches Gutachten akzeptabel.

Das OLG Düsseldorf instrumentalisiert ganz oiffensichtlich die Psychiatrie, um die Gefangenen in ihrer Identität und Menschenwürde zu verletzen und die mögliche Freilassung zu verhindern. Der Öffentlichkeit soll vermittelt werden, die Menschen, die in der RAF kämpften, hätten nie aus politischer Überzeugung heraus gehandelt.

Mit seiner Entscheidung hat das OLG Düsseldorf juristische Winkelzüge genutzt, um nicht offen eine politische Ablehnung der Freilassung begründen zu müssen. Aber darum geht es: die 1992 angekündigte und nie in Angriff genommene Initiative des damaligen Justizministers Kinkel, die öffentlichkeitswirksam die Freilassung von einigen Gefangenen aus RAF und Widerstand ankündigte, endgültig, formal und vor allem unauffällig auf der juristischen Ebene zu begraben.

Dies ist nicht der erste Versuch der bundesdeutschen Justiz, Medizin und Psychiatrie gegen die Gefangenen aus der RAF instrumentalisierend einzusetzen. Bei Ulrike Meinhof war 1973 mit Zustimmung des BGH beabsichtigt, eine Szintigraphie des Gehirns, ggfs. unter Zwangsnarkose durchzuführen. Die Behauptung, aus evtl. pathologischen Gehirnstrukturen ein „abnormes Verhalten“ herzuleiten, verfolgte den Zweck der politischen Diffamierung. Diese Maßnahme konnte durch öffentlichen Protest verhindert werden. Auch die gesetzliche Grundlage zur Durchführung von Zwangsernährung wurde 1981 aufgrund zahlreicher Proteste (besonders von ÄrztInnen) abgeschafft.

Wir finden es wichtig, daß auch jetzt Widerspruch sichtbar wird, und wollen mit dieser Resolution auf die Bildung einer kritischen Haltung in der Öffentlichkeit hinwirken. Wir fordern:

Schluß mit der psychiatrischen Begutachtung! Rücknahme des Düsseldorfer OLG-Beschlusses!

Wir wollen eine Gesamtlösung für alle Gefangenen aus RAF und Widerstand. Das beinhaltet, daß die Gefangenen, die am längsten inhaftiert sind, sofort freigelassen und alle anderen zusammengelegt werden und ihnen, unter besonderer Berücksichtigung der langen Jahre Isolationshaft, eine Freiheitsperspektive in den nächsten ein bis zwei Jahren eröffnet wird.

Medizinische Freilassungsinitiative

z.Hdn. Wolfgang Lettow

Lange Reihe 51

2000 Hamburg 1