■ Zum Beginn des Prozesses gegen die Täter von Mölln
: Fanal für die Demokratie

Es scheint schon wieder eine Ewigkeit her zu sein, das Horrorszenario jenes gesamtdeutschen Pogromherbstes 1992, der Ende August in Rostock-Lichtenhagen begann und kurz vor Weihnachten in die Winterpause ging. Lange Wochen des entsetzten, ohnmächtigen Zuschauens, staatlicher Unfähigkeit, politischer Verharmlosung und demokratischer Lähmung vergingen damals, bevor die Kette rassistischen Terrors fürs erste durchbrochen war.

Der mörderische Anschlag auf eine türkische Familie in Mölln wurde dabei zum entscheidenden Fanal. Nur einer Minderheit der Deutschen hatte in den Tagen davor Tränen der Wut und der Trauer in den Augen gestanden, die Ignatz Bubis, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, noch Wochen später bei einem Besuch in Rostock nicht ganz zurückhalten konnte. Die Mehrheit der Bevölkerung ließ sich nicht vernehmen – außer in Umfragen über eine Änderung des Asylartikels im Grundgesetz.

Währenddessen entdeckten führende Politiker den Sozialarbeiter in sich. Plötzlich ging es um „Verständnis“ für die desorientierten, hilfesuchenden Jugendlichen, und gleich danach hieß es, der Asylantenzustrom müsse endlich gestoppt werden. Viele Linke wurden in diesen Tagen des Polizisten in sich gewahr, der am liebsten selbst in den Wasserwerfer gestiegen wäre und – mit einer kräftigen Beimischung von Tränengas – ordentlich draufgehalten hätte. Neben einer effektiven Repression der bewaffneten und mit Beifall vom Balkon bedachten Volksaufläufe in Eisenhüttenstadt, Quedlinburg und anderswo vermißten sie eine klare öffentliche Sprache, die die demokratischen Prioritäten zurechtgerückt hätte.

Daß Tag für Tag die Grundrechte auf körperliche Unversehrtheit und Menschenwürde ganzer Bevölkerungsgruppen verletzt wurden, fiel zahlreichen Politikern lange nicht auf, die sich schon in ihrer eigenen Parteirhetorik verfangen hatten. Zu ihr gehörte auch der stereotype Satz, die Deutschen seien ausländerfreundlich, die unschönen Vorfälle nur Randerscheinungen. Der Anschlag von Mölln, der von heute an vor dem Oberlandesgericht in Schleswig gegen die Angeklagten Peters und Christiansen verhandelt wird, bündelte wie im Prisma die neuen gesellschaftlichen Zustände der vereinigten Bundesrepublik. Plötzlich wurde – vom Verfassungsschutz nachdrücklich bestätigt – die Existenz eines gefährlichen Rechtsterrorismus offensichtlich. Zugleich fand jener Teil der Gesellschaft, der kaum glauben wollte, was er sah, in der Ästhetik von Lichterketten, Rockkonzerten und Fernsehspots ein Stück der Symbolik jener zivilen Lebenskultur wieder, die sich in den Achtzigern vornehmlich um die Bistro-Tische gruppiert hatte.

Doch schnell wurde die Lichterkette zum ritualisierten Städtewettbewerb mit Bundesligaeffekt, und auch die verschiedensten Initiativen aufgeschreckter Individuen versandeten bald in jener Erkenntnis, die so banal ist wie das Böse selbst: Die Verteidigung der Republik ist, wenig spektakulär, dazu verdammt, vermeintlich Selbstverständliches zu wiederholen. Demokratie und Rechtsstaat, prekär, unvollkommen und schwierig im einzelnen, können nur in historischen Augenblicken pathetisch verteidigt werden. Ihr Alltag aber ist profan, und auf ihn kommt es an.

So schön transzendent das Lied von „Freiheit“ und Zivilcourage im tausendfachen Kerzenschein klingt, der Härtetest findet in einer Wirklichkeit statt, die viel weniger von guten Gefühlen als von gemeinen Widersprüchen bestimmt wird. Deshalb folgte der Lichterkette unvermeidlich und mit deutscher Gründlichkeit die Lichterkettendebatte im Feuilleton, in der Intellektuelle, von Seebacher-Brandt bis Pohrt, akribisch nachwiesen, wie überflüssig, verlogen, steindumm, ja, im Innersten fehlgeleitet Lichterketten seien. Andere sangen den Evergreen vom „Ruck nach rechts“, demzufolge die Bundesrepublik längst auf der Höhe von Paraguay angelangt sein müßte. Auch sie lassen sich nicht von der Wirklichkeit beirren, wenn es darauf ankommt, einfach nur rechtzuhaben.

Die aktuelle Krise in der SPD wie in der CSU, den Antipoden des alten Parteienspektrums, ist Ausdruck einer gesellschaftlichen Verunsicherung darüber, wohin das Land geht. Vereinigungsprozeß, Einwanderung, soziale Krise und internationale Rolle der Bundesrepublik – das sind die Themen, an denen sich die demokratische Qualität der Republik beweisen muß, bevor der nächste Herbst anbricht. Gerade die „unbegreifliche“ Tat von Mölln hat dringenden Anlaß geboten, rechthaberische Realitätsverleugnungen von links und rechts aufzubrechen. Reinhard Mohr

lebt als Publizist in Frankfurt am Main