Schwarzmagier des Wachstums

Bei der Berechnung des Bruttosozialprodukts werden die Kosten des Verbrauchs von Natur unterschlagen / Ein Öko-Sozialprodukt muß her!  ■ Von Thomas Worm

Papierenes Wirtschaftswachstum und Zukunftsängste sind miteinander verkabelt. Den Job hat nicht die Bundespost besorgt, sondern wieder mal das jährliche Frühjahrsgutachten der Konjunkturforschungsinstitute. Im erwarteten Zwei-Prozent-Minus des Sozialprodukts '93 lauert der Horror der Nation. Vom Ifo-Institut in München bis zum Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin erschallte kürzlich die bekannte Litanei der Prognostiker: ohne Wachstum keine Investitionen, ohne Investitionen keine Arbeitsplätze. Und ohne Arbeitsplätze? Kein Wachstum!

Man muß nicht unbedingt zu den Leuten gehören, die von allem den Preis, aber von nichts den Wert kennen (Oscar Wilde), um diese tautologische Volte zu vollführen. Am besten hat sich darauf vielleicht der Erfinder der Nachfragesteuerung, John Maynard Keynes, verstanden. Er empfahl bekanntlich, Pyramiden zu bauen und vergrabenes Geld auszubuddeln, wenn davon nur die Konjunktur am Laufen bliebe. Marktwirtschaftliche Erwerbskunst als l'art pour l'art.

Nun wäre das alles nicht weiter schlimm, gäbe es da nicht jenen Bereich, der unter den fünf Buchstaben Natur figuriert. Ihr Vermögen, sei es als bakterielle Müllabfuhr in den Böden, sei es als Sauerstoff-Recycling der Meere, sei es als Sprinkleranlage der Wälder, wird permanent benutzt. Übernutzt. Was die Natur vermag – noch vermag –, dient der Wachstumsgesellschaft als gigantische Kreditinfusion. Rechenschaft über diese Billionen teure Umbuchung vom Naturkonto legen sich jedoch weder die Bundesregierung noch ihre Wirtschaftsweisen ab. Diejenigen also, die an oberster Stelle Wirtschaftspolitik betreiben und sie dem Publikum im Koordinatensystem rein ökonomischer Erfolgsgrößen präsentieren.

Schon seit Monaten führt ein Buch die Bestseller-Liste in Deutschland an, das mit der organisierten Selbsttäuschung des Nordens bei seinem naturzerstörenden Raubbau Schluß machen will. Weithin vernehmbar hat der US- amerikanische Vizepräsident Al Gore in seinem Buch-Bestseller „Wege zum Gleichgewicht“ seine Forderung bekundet: „Durch weltweite Übereinkünfte muß ein System wirtschaftlicher Buchführung geschaffen werden, das die ökologischen Folgen in angemessenen Werten mißt.“

Doch der lange Marsch vom Capitol Hill nach Ökotopia – und genau das ist Al Gores Ziel in den Augen wirtschaftlicher Expansionsapostel – wird nicht gerade ein Spaziergang auf dem Naturlehrpfad. Der Newcomer im Weißen Haus erlebt es gerade.

Dabei ist der Tadel an der manischen Sozialprodukts-Fixierung und seinen Wachstumsraten keineswegs neu. Bereits in den dreißiger und vierziger Jahren unterzog der spätere Ökonomie-Nobelpreisträger Simon Kuznets das Konzept vom Bruttosozialprodukt (BSP) einer Fundamentalkritik. Dies verhinderte indes nicht, daß OECD und UNO das Sozialprodukt-Konzept zum weltweit verbindlichen Regelwerk für die Gesamtbuchhaltung der Nationen ausriefen. Vereinfacht gesagt, summiert das Sozialprodukt auf der Einkommensseite alle Löhne, Gehälter und Gewinne, auf der Verwendungsseite die privaten und staatlichen Konsumausgaben sowie sämtliche Investitionen. Jedes Geschehen, das nicht zu Geldgeschäften führt, fällt aus der Optik des Sozialprodukts heraus. Obwohl es durchaus wirtschaftlich bedeutsam sein kann: von der kostenlosen Hausfrauenarbeit über den Verbrauch von klarem Grundwasser bis hin zum Siechtum der Forste.

Statt nun die hohle und irreführende „Erfolgsgröße“ Sozialprodukt aus dem Verkehr zu ziehen, wurde sie in Deutschland im Gefolge des Konjunktureinbruchs 1966/67 gesetzlich verankert; als Meßlatte schlechthin für „gute“ Wirtschaftspolitik. Der Paragraph 1 des sogenannten Stabilitätsgesetzes von 1967 nennt neben stabilen Preisen, ausgeglichenem Außenhandel und hohem Beschäftigungsgrad insbesondere das „stetige und angemessene Wirtschaftswachstum“ – in BSP-Zahlen – als vierte Zielgröße staatlicher Eingriffe. Von der Wachstumsmanie zur Wachstumsmagie. Denn die vier Zielgrößen des Stabilitätsgesetzes bilden zusammen das „Magische Quadrat“.

Doch dieses Viereck ist wohl eher ein Pentagramm der Schwarzen Magie, dessen fünfte Spitze auf die verborgene Zielgröße Naturzerstörung weist. Magie, definierte einst der amerikanische Schriftsteller Ambroce Bierce im „Wörterbuch des Teufels“, sei die Kunst, Aberglauben in Geld zu verwandeln. Eine Kunst, die floriert wie nie zuvor. Der Aberglaube, auch weiterhin wachse der Wohlstand durch Naturübernutzung, verwandelt sich vorerst bei den einen in Einnahmen, längerfristig bei allen in Verluste. In Geld ausgedrückt stellt die jüngste Prognos-Studie zu den Auswirkungen des Energieverbrauchs lakonisch fest: „Die Kosten einer Klimakatastrophe dürften unendlich sein.“

Bereits in der zweiten Hälfte der 80er Jahre unternahmen die Grünen einen Vorstoß, um die klangvollen Wachstumszahlen in den Jahreswirtschaftsberichten der Bundesregierung ökologisch „angemessen“ nach unten zu korrigieren. Der Initiative schlossen sich auch SPDler und der CDU-Querdenker Kurt Biedenkopf an. Durch das Debakel um die deutsche Vereinigung ist völlig in Vergessenheit geraten, wie weit die Initiative schon vorgedrungen war: Im Wirtschaftsausschuß des Bundestages kam es am 10. Mai 1989 zu einer öffentlichen Anhörung. Dabei ging es um die Frage, wie die ökologischen Folgekosten des Wachstums in einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung berücksichtigt werden können.

Der Versuch, die Naturblindheit der Wachstumsjünger durch grelle, aber aufrichtigere Zahlen zu beseitigen, wurde damals bis in die Kolumnen der Zeit verfolgt. 1990 dann lag der Entwurf für ein „Gesetz zur Sicherung einer umwelt- und sozialverträglichen Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung“ von den Grünen vor. Doch die Prioritätenwende nach dem Mauerfall fegte die Vorlage vom Tisch.

Seither wirft das Magische Quadrat immer dunklere Schatten. Kaum bezahlbare Preise, gefährdete Exporte, immer mehr Arbeitslose und Wachstumszahlen, die in den Keller sacken. Der deutsche Schaffer zuckt zusammen. Nur über eines bleibt das Erschrecken aus: die massive Schrumpfung der deutschen Wirtschaft durch die Kosten von Umweltzerstörung. Gesättigte Märkte in der Automobilbranche führen zum großen Schlottern in den Konzernen, aber keineswegs zur längst überfälligen ökologischen Konversion dieses Industriezweigs. Ministerialbeamte, Konjunkturorakler und Wirtschaftsstatistiker glauben weiterhin an die frohe Botschaft hoher Wachstumszahlen. Ihr psychokulturelles Credo: Was meßbar wächst, tut gut.

Ein Öko-Sozialprodukt könnte helfen, die verlogene Konvention aufzubrechen. Grüne Werte sollten ins Zahlenreich der Wirtschaft einströmen. Den allerorten gehandelten Wachstumszahlen würde dadurch die normative Kraft des Faktischen streitig gemacht.

Die Zeit für eine neue Zahlendidaktik, die den Naturverzehr ins ökonomische Bewußtsein prägt, scheint günstig. Denn auch im mächtigen Land der Stars and Stripes will das die Nummer zwei der Nation, zumindest verbal. Bei alledem geht es um die Frage: Wie möchte die republikanisch verfaßte Gesellschaft ihren Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen wirtschaftlich abbilden? Und – will sie ihre Zukunft dem Ratsschluß Magischer Vierecke überlassen?