Ein Ende des Alten ist noch kein Aufbruch

Der eigentliche Parteigründungsakt war ein eher flüchtiges Ereignis. Auch an den gewohnt lebhaften Debatten ließen es die über 600 Delegierten von Bündnis 90 und Grünen in Leipzig fehlen. Dafür lieferten einige Redner trübe Perspektiven.

Die Vereinigung geriet zur Fünf-Minuten-Angelegenheit, nüchtern und ein wenig lieblos. Kaum daß die über 600 Delegierten beider Organisationen am Freitag abend in der Leipziger Messehalle 7 Platz genommen hatten, war der „neue politische Hoffnungsträger“ auch schon geboren: „Hiermit wird der Assoziationsvertrag in Kraft gesetzt“, schallte es vom Tagungspodium. „Von nun an nur noch Bündnis 90/Die Grünen, von nun an nur noch gemeinsam.“ Als seien die Worte restlos aufgebraucht, mit denen die mühsam-zähen Vereinigungsverhandlungen von Bürgerbewegung und Grünen in den vergangenen eineinhalb Jahren immer wieder zum Urerlebnis deutsch-deutscher Partnerschaft stilisiert worden waren, blieb der eigentliche Gründungsakt ein sprachlos-flüchtiges Ereignis: Die beiden Vorstände aufs Podium, Fototermin, Händeschütteln, bumms, das war's.

Im anfänglichen Entsetzen über den Betonbunker und dessen nervenzermürbender Akustik verloren sich denn auch der Gründungsakt und die beiden einleitenden Gastreden von Jens Reich und Joachim Gauck. Es gibt Orte, die eignen sich nicht für Nachdenkliches, für konzentriertes Zuhören und freundlich-ernste Gegenrede. Positiv formuliert: Daß sich die Anwesenden in der Atmosphäre von Halle 7 nicht die Köpfe einschlugen, sondern nur gedämpft und bis auf wenige Höhepunkte gelangweilt drei Tage ausharrten, ist vielleicht der schlagendste Beweis für die tiefen Veränderungsprozesse bei den Grünen.

Ein „politisches Signal“ sollte von Leipzig ausgehen, das nach der Phase „entpolitisierter Selbstbeschäftigung“ die neue „Alternative“ für die krisengeschüttelte Republik ankündigen würde. Doch wie signalisiert eine Partei, die sich seit zwei Jahren mit ihrer Integration selbstbeschäftigt, daß sie nun zu einem „Aufbruch“ bereit und in der Lage ist? Wie macht sie – nachdem die organisatorische Vereinigung zwar bewältigt, doch die inhaltliche noch gar nicht begonnen hat – ihre Kompetenz zur „Gestaltung eines neuen ökologischen und sozialen Gesellschaftsvertrages“ glaubhaft. Wie schafft sie es, eine politikermüdete Gesellschaft einzuladen „sich mit uns auf den Weg zu machen“?

Diese Ansprüche immerhin sind in der am Samstag verabschiedeten „Leipziger Erklärung“ enthalten. Es ist zweifellos ein Verdienst der neuen Parteivorsitzenden Marianne Birthler, daß die Resolution über weite Passagen in einem zurückhaltenden, selbstreflexiven und einladenden Ton formuliert ist: kein billiges Urteil über die politische Klasse, sondern die Aufforderung, bei aller „notwendigen Kritik die Maßstäbe nicht zu verlieren und pauschal zu verdammen“; keine oppositionelle Selbstausgrenzung, sondern positive Bezugnahme auf „Sinn und Geist der Demokratie“, keine externe Bastion der Kritik und moralischer Selbstüberhebung, sondern die neue Partei als gestaltungswilliges Moment in dieser Gesellschaft. Man darf es schon als kleine Überraschung betrachten, daß der von Frieder 0. Wolf formulierte „linke“ Gegenantrag von Anfang an chancenlos blieb.

Die Grünen sind zahm geworden. Eine Zwei-Drittel-Mehrheit für den moderaten Antrag, Vorsitzendenwahl ohne AlternativkandidatInnen, eine Parteitagsregie, die bis ins Kleinste aufgeht, inklusive Zeitplan – all das sind Indizien für einen veränderten grünen Part im neuen Bündnis. Doch das Ende der einstigen Flügelpolarisierung, der Integrationskurs der Führung, die breite Zustimmung zum Schimpfwort früherer Tage: Reformismus – das alles signalisierte eben nur das Verschwinden des Alten. Aber der Ansatz des Neuen, das angekündigte Aufbruchsignal, blieb in Leipzig nur Papier: mit Mehrheit angenommen, nirgends erfahrbar.

„Hier wird einfach nichts Substantielles behandelt“, lautete Gerd Poppes Verdikt nach dem zweiten Tag. Er hätte sich eine „lebhaftere Debatte gewünscht“, meinte Werner Schulz. Ein Euphemismus. Es gab in Leipzig keine Debatte, sondern eine zerfaserte Abfolge von Statements, von denen die Redner selbst zu ahnen schienen, daß sie in der dröhnenden Zumutung des Gesamtarrangements ohnehin nicht gehört werden würden. Auch zu dieser Regel die Ausnahmen: der wiedergewählte Vorsitzende Volmer, der in Leipzig mit einem 75-Prozent Ergebnis für seine Vorstandstätigkeit belohnt wurde, und Joschka Fischer, der sich seit langem wieder in die innerparteiliche Debatte zurückmeldete. Von ihnen kamen die aufmerksam verfolgten, die donnernden Reden, die es aufnehmen konnten mit der Halle, ihren Insassen und der Depression. Beide kontrastieren die reale Orientierungslosigkeit der Partei mit der wortreichen Aufwertung ihrer Rolle. Beide tun es, indem sie die aktuelle Politik brandmarken, die Krise der Republik charakterisieren, um von daher die neue Bedeutung der Partei deutlich zu machen. Dabei ist die Tonlage Volmers hart an der Grenze zur Demagogie: „Die Rechtsextremisten verbreiten eine Stimmung der Angst und des Terrors, die die Union braucht, um auf dieser Welle die gesamte Gesellschaft nach rechts rücken zu können“, lautet einer von Volmers Schlüsselsätzen zur Motivationslage der Bundesregierung. „Die Rechtsextremisten überspitzen nur, was bis in die Mitte der Gesellschaft und den Hauptstrom der CDU hineinreicht.“

Wie heißt es in der Leipziger Erklärung: „Wer vorgibt, wichtige Probleme im Griff zu haben und sie in Wahrheit ignoriert, wer Ängste erzeugt, um die eigene Politik zu legitimieren... betrügt die Bevölkerung“ – so wie Volmer seine Delegierten: die Union ein Erfüllungsgehilfe alter NPD-Programme, die SPD ein gesinnungsloser Haufen mit „Anfälligkeiten für Fremdenfeindlichkeit“, zudem verstrickt in „Diadochenkämpfe“. Über die Grünen, ihre Strategie gegen Rechtsextremismus und für eine „humanistische Gesellschaft“ muß Volmer da schon kaum mehr etwas sagen. „Opposition“ wirkt per se schon strahlend vor dem Hintergrund des Volmerschen Szenarios. Aber, was hat sie bewirkt, die Politik der „offenen Grenzen“ gegen die „Abschaffung“ des Asylrechtes?

Auch Fischer malt trübe Perspektiven, auch er bedient das Bedürfnis der Partei: „Das Land droht wegzurutschen“, die Partei als „entscheidender Faktor bei der Verteidigung der Demokratie“. Auch er bietet keine Konzepte. Aber wenn er von der „ganz neuen Verantwortung“ spricht, ist dieses Defizit zumindest mitgedacht. Die Herausforderung besteht dann nicht mehr nur in einer sich bedrohlich verändernden Republik, sondern im „Realisierungsdruck“, unter den sie die Schönwetterprogrammatik der Partei setzt.

Fischers Rede klingt, bei allem Parteiführer-Gestus, als würde er ahnen, wie viele Petersberge seine Partei noch zu nehmen hat, bevor das Risiko der Bonner Regierungsbeteiligung kalkulierbar wird. Bündnis 90/Grüne sind noch nicht so weit, ist eine von Fischers versteckten Botschaften. Volmer dagegen redet von oben herab. An der Verkommenheit der anderen gewinnt er seinen Nachweis bündnis-grüner Stärke. Regieren wollen beide 94 nicht. Selbstgerechte, „einzige“ Opposition, oder Opposition als notwendige Vorbereitung auf die Macht- und Verantwortungsteilhabe – so lautet die Alternative, die in Leipzig von den starken Männern der neuen Partei ausgegeben wurde. Ausgang völlig offen. Matthias Geis, Leipzig