: Alphörner, Alpträume, Abgründe
Christoph Marthalers „Prohelvetia“ und Johann Kresniks „Mars“ in Basel ■ Von Jürgen Berger
Christoph Marthalers jüngster Schlag in's Kontor schweizerischer Gemütlichkeit ist verblüffend. Da setzt er die mühsame und durch jahrhundertelange Überwindung von Gebirgssteigungen genetisch fixierte Slow-Motion des Bergvolkes in theatralische Zerdehnung um, und die Zuschauer folgen trotzdem amüsiert bis atemlos diesen alpenländischen Langsamkeitsritualen. Daß es zum Ereignis wird, wenn ein Schweizer sich aus dem Bett quält, langsam zum Klo schleicht und dort laut hörbar dafür büßt, daß „Di Fischstäbli hüt nit guet ware“, hat damit zu tun, daß Marthaler diesen Klogang komponiert und wir den malträtierten Schweizer während der langsamen Bewegung kennenlernen. Gerade in den Olymp des Berliner Theatertreffens aufgestiegen (mit „Murx den Europäer, murx ihn, murx ihn, murx ihn ab“), hat Marthaler nun einen Angriff auf den gutschweizerischen Geschmack gestartet und sich von Anna Viebrock dafür ein Bettengebirge bauen lassen, eingerahmt von einer PVC-Täfelung, die so tut, als sei sie aus Holz. Scheußlich schön ist das, so daß man das Alpenglühen während eines wildromantischen Schweizer Bergliedes eher als Schamröte deuten möchte.
Denn so sieht es tatsächlich aus in den Schweizer Gast- und Skiaufwärmstuben, die Marthaler genau kennt und wo er wohl auch die Witze und Kochrezepte, Gemeinheiten und Entgleisungen gesammelt hat, die er mit seinen Schauspielern als an- und abschwellenden Murmeltiergesang inszenierte. Seine Schweizer hatten zu häufig Kontakt mit den sympathischen Hochgebirgsnagern und dämmern jetzt vor sich hin, im wahrsten Sinne des Wortes „eingebettet“ in ein kleines Gesamtkunstwerk, das gleichzeitig wie ein Abschiedstableau des Basler Schauspiels wirkt (Ende der Spielzeit wechselt Intendant Baumbauer ans Hamburger Schauspielhaus). Hin und wieder scheinen die Dämmernden denn doch wach zu werden, paradoxerweise wenn sie einschlafen und träumen. Dann sind sie lebendiger als im Wachzustand, oder kriechen gar wie Ueli Jäggi als übermütiger Schlafwandler ins Bett einer Mitträumerin. Es könnte was daraus werden, aber die in Schweizer Höhenluft getrocknete Bettnachbarin bringt lediglich verklemmtes Gekicher hervor, während der erotisierte Schlafwandler wüste Beschimpfungen vor sich hin brabbelt.
Marthalers „Prohelvetia“ ist eine musikalische Inszenierung, und zwar nicht nur, wenn seine neurotischen Sadomelancholiker hochschrecken, um todtraurig- schönes schweizerisches Liedgut zu intonieren, als seien sie aus einem Alptraum aufgewacht und müßten sich Mut machen, bevor sie weiterdämmern. Es hat auch etwas mit Musik zu tun, wenn sie grummeln und schnarchen, schmatzen und sich kratzen, oder sich denn doch einmal aufraffen und zu einer Schweizer Gymnastikolympiade antreten. Wenn es so weit ist, bleibt nur einer sitzen: Stephan Bissinger, der Heimatdichter aus dem deutschen Flachland, das Nordlicht, das mit kitschigen Texten aus der Alpenrepublik einen Hort der Freiheit und des wahren Menschtums machen will, als seien Heidegger und Konsalik gekreuzt worden. Ein brauner Tonfall wird hörbar, in der romantischen Rückbesinnung auf das vermeintlich Ureigne zeigen sich geheime Verbindungslinien zwischen Schweizern und Deutschen.
Wo aber steht der Feind, gerade heute, wo nichts mehr sicher zu stehen scheint? Tatsächlich im Aufzug? Es sieht so aus, denn Marthaler holt zu einem ironischen Seitenhieb gegen das Schweizer Militär aus, das umsonst Fahrräder und Abfangjäger anschaffte. Die Befürchtung, im Falle eines kommunistischen Blitzkrieges könnte die Käse- und Bankenenklave übersehen werden, war unbegründet, wie wir erfahren, wenn sich die Tür zu einem Fahrstuhl öffnet, den Anna Viebrock hoch oben an der Rückwand installierte. Er kommt aus dem Klo und führt ins Nirgendwo, einmal allerdings summt er doch, und drinnen stehen zwei hochdekorierte Generäle der roten Armee. Und daß die jemals an einen ernsthaften Angriff gedacht haben könnten, mag man nicht glauben, weil sie genau wie die Schnarchschweizer sich dann am wohlsten fühlen, wenn sie gemütlich singen können. Eine Szene wie das ganze Stück: bissig und entspannt zugleich. Scheinbar nur Oberfläche, bekommt man einen tiefen Einblick in den Mikrokosmos der Murmeltiere in Bern und Moskau.
Es war, wie gesagt, ein Abschiedsabend des Basler Schauspiels, allerdings nicht der einzige. Einige Tage später stand eine zweite Provokation auf dem Spielplan, Johann Kresnik hatte sich Fritz Zorns „Mars“ vorgenommen, ein autobiographischer Roman, der Anfang der 80er Jahre zum Kultbuch wurde. Es geht um eine Krankheit zum Tode, gewachsen aus verlogener Harmoniesucht und erdrückendem Wohlstand, exemplarisch ausgebrochen als Krebsgeschwür eines jungen Schweizers, der am rechten Zürichseeufer aufwuchs. Ähnlich wie Marthalers Schnarcher, die sich immer wieder durch vaterländische Gesänge einwiegen wollen, geht es in „Mars“ um krank machende Harmonie, aber auch um die Gegenreaktion, die Rebellion gegen die Familie, in der nie Konflikte ausgetragen wurden. Daß die Familie bei Kresnik auch zum Bild für die Gesellschaft werden würde, war klar, denn eines seiner vorrangigen Themen ist die Deformation des Einzelnen als Voraussetzung für die deformierte Gesellschaft – und umgekehrt.
Kresnik beschäftigte sich schon einmal mit „Mars“, damals allerdings machte er reines Tanztheater daraus. Jetzt hat er zusammen mit dem Schweizer Autor Hansjörg Schertenleib eine Dramatisierung versucht und Textteile überwiegend mit Schauspielern inszeniert. Herausgekommen sind wie bei „Prohelvetia“ provozierende Bilder, mit Unterschieden: Während Marthaler die Zuschauer in Abgründe lockt, prügelt Kresnik sie hinein, während Marthaler sich vom Sprechtheater wegbewegt, findet Kresnik zu ihm hin, mit anderen Ergebnissen allerdings, als seine auf der Sprechbühne groß gewordenen Kollegen. Er stellt vor allem Bilder gegeneinander, häufig schroff, übergangs- und scheinbar zusammenhanglos. Und wenn Bernhard Schütz (er spielt den Mars) Texte spricht, ist es häufig nicht auf theatralische Wirkung hin angelegt, sondern geschieht wie nebenbei.
Dafür, daß seine Tanzherkunft nicht ganz in Vergessenheit gerät, hat Kresnik den expressiven Tänzer Ismael Ivo nach Basel geholt, das Alter Ego von Bernhard Schütz, im Programmheft als „Tod“ ausgewiesen. Erst der nahende Tod habe all die verdrängten Wünsche und Gefühle hervorgelockt, die im gutbürgerlichen Dampfdrucktopf gebändigt waren, heißt es in Zorns Roman. Wenn Schauspieler und Tänzer aufeinander treffen, wenn die Libido mit der Ratio, das Tier mit dem verklemmten Menschen ringen, wird es gefährlich auf Basels Bühne, gerät das Theater an seine Grenzen, zeigt Bernhard Schütz nur noch sich selbst, und zwar pur. Provokativ zumindest ist das, während auf einer Reihe von Monitoren an der Rückwand eine Hardcore-Nahaufnahme gezeigt wird, etwas entschärft, denn über das Zentrum der Kopulationsmechanik ist als ironische FSK ein rotes Schweizerkreuz gelegt.
Waren wir in „Prohelvetia“ noch in der Skihüttenschweiz, sind wir jetzt in einer eidgenössischen Bedürfnisanstalt. Unter den Monitoren ist eine peinlich saubere Pissoirkette angebracht, in der auch gezüchtigt wird, indem man den Ungehorsamen im Pinkelbecken beinahe ertränkt. Und will sich Kresniks Schweizer einmal einen Überblick verschaffen, steigt er auf ein Urinoir, von wo aus er auch zum Glanzstück von Penelope Wehrlis Bühne aufsteigen kann: Dem Salon der Mars-Eltern, hoch oben hinter zwei großen Schaufenstern, wo Vater und Mutter auf einem gestrandeten Krokodil thronen. Es liegt auf dem Rücken, scheint sich aber pudelwohl zu fühlen, Josef Ostendorf ist der Vater als tödliche Tonne und Gundi Ellert eine aseptisch reine Mutter.
Von einigem wäre noch zu berichten: Vom „Contemporary Alphorn Orchestra“ etwa, dessen Mitglieder ihrem Instrument alles, bis hin zu tibetanischen Klängen, entlocken können; aber auch von der merkwürdigen Entspannung die sich einstellt, wenn einer wie Kresnik zu oft und zu gewollt radikal sein will. Am stärksten wird sein „Mars“, wenn es um ein zentrales Motiv des Romans geht und die fatalen Folgen eines unreflektierten Bildungsbürgertums vorgeführt werden. In der Vorlage heißt es, in der Familie habe immer Einigkeit darüber herrschen müssen, welche Literatur und Kunst gut (sprich klassich), und welche schlecht (sprich kommunistisch) sei. Daraus entwickelt Kresnik eine Szene der Auflehnung, und der ansonsten ausgelieferte Bernhard Schütz wird zum souveränen Regisseur von Macbeth, Hamlet, Faust und Danton-Nummern. Vor allem Gretchen schikaniert er so, wie man sich das vom monomanischen Regisseur immer vorgestellt hat.
Endlich kann Mars sich über das Bildungsbürgertum lustig machen, das er verinnerlicht hat. Es nützt ihm nichts mehr. Die weißen Särge stehen schon bereit, die Schweiz ist zum peinlich sauberen Friedhof geworden. Ein Trost: Im Moment gibt's in Basel noch eines der lebendigsten Theater des deutschsprachigen Raumes. Wie es ab der nächsten Spielzeit weiter geht, weiß allerdings niemand, denn dann kommt der neue Intendant, Wolfgang Zörner, und der hat gerade tiefgreifenden Sparplänen zugestimmt, die vorerst abgewehrt schienen. Konflikte – diesmal interne – scheinen angelegt, da große Teile des neuen Ensembles bis hin zum neuen Schauspielchef Johannes Klaus ihn deswegen öffentlich rügten.
Christoph Marthaler: „Prohelvetia“. Bühne und Kostüme: Anna Viebrock. Mit Urs Bihler, Stephan Bissmeier, Catriona Guggenbühl, André Jung u. a. Komödie des Theaters Basel. Weitere Vorstellungen 21., 24., 25., 26., 28.5.
Fritz Zorn: „Mars“. Bearbeitet von Johann Kresnik und Hansjörg Schertenleib. Regie: Johann Kresnik. Raum und Ausstattung: Penelope Wehrli. Musik: Contemporary Alphorn Ensemble, Patricia Draeger (Akkordeon). Mit Bernhard Schütz, Ismael Ivo, Gundi Ebert, Gundi Ellert u. a. Große Bühne des Theaters Basel. Weitere Vorstellungen: 25., 26.5.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen