Algeriens schleichender Bürgerkrieg

Von der Weltöffentlichkeit vergessen, eskaliert die Konfrontation zwischen Algeriens Militärjunta und der verbotenen „Islamischen Heilsfront“ / Kleiderverbot gegen Stadtguerilla  ■ Aus Algier Khadir Obeid

Nehmen wir einen beliebigen Tag. Am Samstag, den 8. Mai, sterben in der algerischen Stadt Blida drei bewaffnete Männer. Die Sicherheitskräfte geben an, die Männer hätten sich auf Aufforderung geweigert, anzuhalten, und statt dessen das Feuer eröffnet. Am gleichen Tag umzingeln zehn bis fünfzehn Männer in der Stadt Tazoult den Sitz der regionalen Sicherheitsbehörde und erschießen dabei zwei Polizisten. Oder Sonntag, den 16. Mai: In Tlemcen wird der Staatsanwalt Mohamed Said erschossen, während er seine Kinder zur Schule bringt. Und wieder in Blida eröffnen Unbekannte mit Maschinengewehren das Feuer auf Wartende an einer Bushaltestelle. Acht Menschen werden verletzt.

In Algerien wird über diese Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und militanten Anhängern der verbotenen Islamischen Heilsfront (FIS) längst wie über einen Bürgerkrieg diskutiert. Seitdem die FIS im Januar 1992 durch einen internen Putsch des Regimes um den sicheren Sieg bei den ersten freien Parlamentswahlen betrogen und in den Untergrund gezwungen wurde, sind nach Schätzungen über 600 Menschen ums Leben gekommen.

Gestern veröffentlichten alle algerischen Zeitungen einen Regierungserlaß, wonach ab sofort das Tragen islamischer Kleidung in öffentlichen Unternehmen verboten ist. Illegal sind fortan die langen weißen „Dschellaba“-Gewänder und buschige Bärte. Bei Zuwiderhandlung droht Entlassung.

„Die FIS-Führung hat ihren Kämpfern empfohlen, sich nach Algier und Umgebung zu begeben“, erklärt ein gut informierter algerischer Politologe, der den Islamisten nahesteht. „Sie hat verstanden, daß es die Strategie der Regierung war, ihre Kämpfer aus den Städten in die Berge zu vertreiben. Dort konnte die Armee sie umzingeln und in Ruhe fertigmachen.“ Anders als in dicht bewohnten Gebieten habe die Armee dort Artillerie, Panzer und Flugzeuge gegen die FIS einsetzen können.

Die geänderte Strategie der FIS ist ein Resultat der staatlichen Repression: Ausnahmezustand, Massenfestnahmen und die Internierung von angeblichen FIS-Anhängern in Gefangenenlagern in der Wüste. Den Sicherheitskräften gelang es in den ersten Monaten nach dem Putsch auf diese Weise, wichtige Zellen der FIS in den Städten zu zerschlagen.

Eine weitere Fehleinschätzung der FIS betraf den Zustand der Armee selbst. Die FIS hatte zunächst darauf gesetzt, daß Angriffe in den Bergen das Militär in eine Zerreißprobe führen würden. Doch die Hoffnung, die Soldaten würden zu Tausenden überlaufen und sich dem Kampf gegen das Regime anschließen, erwies sich als Illusion. Zwar gibt es einzelne Deserteure oder auch einmal eine ganze Gruppe, die samt Waffen zur FIS überläuft, aber das ist eher Ausnahme.

Nun will die Heilsfront in erster Linie die eigenen Verluste minimieren. Außerdem erhofft sie sich von Anschlägen in den Städten eine größere politische Wirkung. Die FIS will demonstrieren, daß sie die Kraft hat, Initiativen zu ergreifen, und die Regierung das Land nicht unter Kontrolle hat.

Eine weitere wichtige Veränderung in der Taktik der FIS ist die Ausweitung der Liste möglicher Angriffsziele. Bis vor ein paar Monaten wurden nur militärische Ziele attackiert. Nun hat die FIS begonnen, Anschläge auf Einzelpersonen zu verüben. In den letzten Wochen ermordeten vermutliche FIS-Anhänger unter anderem den früheren Bildungsminister Giali Yabiss, der ein Komitee geleitet hatte, das mit der Erstellung eines Entwicklungsplanes für Algerien bis zum Jahre 2015 beauftragt war. Auch zwei Mitglieder des anstelle des aufgelösten Parlaments eingesetzten Konsultativrates, Al-Adi Filissi und Abdel Hafiz Alsanhari, wurden umgebracht. Zwei Minister haben Attentate überlebt.

„Die Islamisten wollen mit solchen Attentaten versuchen, den Staatsapparat zu paralysieren“, erklärt der Politologe. „Das jetzige Regime versucht, seinem Mangel an Glaubwürdigkeit abzuhelfen, indem es saubere Personen in die Regierung aufnimmt. Die FIS versucht durch die Attentate, potentielle Anwärter auf Regierungsposten einzuschüchtern. Sie will Angst säen, damit niemand mit der Regierung zu kooperieren wagt.“

Anders als beim Angriff auf Militärstationen braucht man für Attentate auf Einzelpersonen auch keine großen Gruppen von Kämpfern. Zwei, drei Leute genügen, die die Umgebung der betreffenden Person ausspionieren, dann den Mord planen und durchführen. Andere Aktionen der Heilsfront zeigen aber auch, daß sie durchaus noch in der Lage ist, größere Gruppen von Kämpfern zu mobilisieren. Augenzeugen berichten beispielsweise von einem Versuch von etwa 100 Personen, den Boumedienne-Flughafen 25 Kilometer südlich von Algier anzugreifen. In den Bergen, so heißt es in Algier, unterhalte die FIS nach wie vor Stützpunkte, in denen mehrere Hundert einsatzbereite Männer stationiert sein sollen.

Ihre Waffen haben die FIS- Kämpfer meist bei den früheren Überfällen auf Militäreinrichtungen erbeutet. Aber es gibt noch andere Quellen: „Die politische Mafia versorgt natürlich auch die islamischen Militanten mit Waffen“, meinte ein algerischer Journalist. Unter „politischer Mafia“ versteht man in Algerien die Anhänger des durch den Putsch zum Rücktritt gezwungenen Ministerpräsidenten Chadli Benjedid von der ehemaligen Einheitspartei FLN. Seither sind die neuen Machthaber bemüht, der „Mafia“ die Verantwortung für die desolate Lage aufzubürden. „Aber Benjedids Leute haben noch immer großen Einfluß im Staatsapparat, im Geheimdienst und in der Armee“, sagt der Journalist. „Sie haben jetzt Angst um ihre Posten, und es kann ihnen nur recht sein, wenn die FIS ihre bewaffneten Aktionen verstärkt. Der Druck auf sie läßt damit nach und das Regime ist mehr und mehr auf ihre Kooperation angewiesen“.

Die algerische Junta hat bislang kein anderes Konzept zur Lösung der Krise als die nackte Gewalt. Nach wie vor führt die Armee nachts zwischen 22.30 und 5.00 regelmäßig Razzien in den traditionell islamistischen Vierteln Algiers durch. „Die Regierung will die Hauptstadt in eine FIS-Falle verwandeln“, vermutet der Journalist. „Sie hofft, ein tödlicher Schlag gegen die FIS in Algier werde deren Ende sein. Sie wollen die Leute an eine Auseinandersetzung wie in Korsika oder Irland gewöhnen.“ Doch selbst wenn es den Sicherheitskräften früher oder später gelingen sollte, die Kämpfer der FIS auszuschalten, ist damit das politische Problem, das die algerische Gesellschaft spaltet, noch lange nicht gelöst.