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Voller Vatergefühle

■ Mit Demirel bekommt die Türkei einen neuen, alten Präsidenten

Istanbul (taz) – Rechtzeitig zur Wahl von Süleyman Demirel zum neuen türkischen Staatspräsidenten am Sonntag ereilte ein Buch des Journalisten und Hofberichterstatters Abdullah Uraz die Zeitungsredaktionen: „Der Kampf Demirels für die große Türkei. Demokratie und Wirtschaftsentwicklung.“ Auf dem Buchtitel winkt „Baba“ – „Vater“ – Demirel mit seinem Hut den Wählermassen zu.

Die Anrede „Vater“ und der Hut spielen eine wichtige Rolle in Demirels politischer Biographie. Der arme Sohn eines zentralanatolischen Opiumanbauers verkörpert seit 30 Jahren die Hoffnungen der Bauern, die im Zug des wirtschaftlichen Transformationsprozesses in die Städte strömten. Demirel war stets ihr Schutzherr – ein Patron. „Er hält die schützende Hand über alle und ist voller Vatergefühle“, charakterisiert ihn das Buch von Uraz.

Demirel, der nicht der bürokratischen und militärischen Elite entstammt, führte die populistische Diktion in die türkische Politik ein. Er genießt es, im bäuerlichen Dialekt Wahlreden zu halten und sich in den Massen zu baden. In den ersten 500 Tagen seiner jüngsten Amtszeit als Ministerpräsident seit Winter 1991 soll er sage und schreibe 123.000 Menschen auf die Wangen geküßt haben. Kein Wunder, daß Demirel die türkische Sprache um einen eigenartigen Gebrauch des Possessivpronomens bereicherte: „Meine Bauern, meine Arbeiter, meine Beamten“.

Zweimal hat der mehrfache Regierungschef der Türkei ganz unfreiwillig den Hut nehmen und sein Amt putschenden Militärs überlassen müssen – zuletzt 1980, als das Parlament aufgelöst, die Parteien verboten und Demirel in die Verbannung geschickt wurde. Erst nach einer Volksabstimmung 1987 konnte er sich wieder legal politisch betätigen. Den Militärs, die ihn von seinem geliebten Amt wegjagten, hat er nie verziehen.

Um sein Amt zu sichern, scheute er keine Koalitionsregierung. In den siebziger Jahren waren es die türkischen Faschisten, bei seiner Rückkehr ins Amt des Ministerpräsidenten 1991 war dann Koalition mit den Sozialdemokraten angesagt. Der Vater ist zu allen freundlich und nett. Und er dreht sich flink nach dem Wind. „Demokratisierung“ und „gläserne Polizeiwachen“ hatte er im Wahlkampf 1991 versprochen. Aber die linke Tageszeitung Aydinlik hat eine schreckliche Bilanz von den ersten 500 Tagen Demirel- Regierung gezogen: 806 gefolterte Menschen, 16 Journalistenmorde, 84 Getötete bei Polizeirazzien.

Demirel flüchte sich in das Staatspräsidentenamt, schreibt der Kolumnist Ilsever. Doch wird er solche Kritik gelassen hinnehmen. Eine seiner Lieblingswendungen lautet: „Gestern ist gestern, heute ist heute.“ Heute ist der „Vater“ Staatspräsident. Ömer Erzeren

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