Erleichtert und frustriert

■ Nach dem Sachsen-Kompromiß: Metaller im Osten verhandeln weiter

Berlin (taz) – Die Übernahme des sächsischen Tarifkompromisses in die übrigen Tarifgebiete der ostdeutschen Metall- und Elekroindustrie ist für die IG Metall zu einem mühseligen Hindernisrennen geworden. Im Tarifbezirk Sachsen lief gestern die Urabstimmung unter den IG-Metall-Mitgliedern an. Laut Satzung der IG Metall müssen mindestens 25 Prozent der Mitglieder für die Annahme des Dresdner Kompromisses stimmen, um das Ergebnis in Kraft zu setzen. Obwohl erwartet wird, daß dieses Quorum erreicht wird, gibt es auch unzufriedene Stimmen. Insbesondere die zweijährige Verschiebung der vollen Tariflohnangleichung stößt bei vielen am Arbeitskampf Beteiligten auf Kritik. Der zweite Vorsitzende der IG Metall, Klaus Zwickel, warnte deshalb bereits vor der Illusion, in den anderen Tarifbezirken ließe sich das Ergebnis von Sachsen noch aufbessern.

Diese Warnung war insbesondere an den Bezirk Berlin-Brandenburg gerichtet, in dem die Kritik an dem sächsischen Kompromiß besonders stark ist. In Berlin und im Berliner Umland ist das Gefälle zwischen West- und Osttarifen von den Beschäftigten direkter erfahrbar als in den anderen ostdeutschen Tarifbezirken. So zum Beispiel in der Hennigsdorfer AEG-Schienenfahrzeuge GmbH, dem mit 3.000 Beschäftigten größten brandenburgischen Metallbetrieb wenige Kilometer jenseits der Westberliner Grenze. In diesem voll ausgelasteten, hochproduktiven Betrieb arbeiten neben ortsansässigen KollegInnen zahlreiche Westberliner Facharbeiter mit Westtarif-Bezahlung. Bei der im bisherigen Tarifvertrag vorgesehenen schnellen tariflichen Lohnangleichung hatte es keine Spannungen innerhalb der Belegschaft gegeben. Ob das so bleiben wird, wenn nun die Ungleichbehandlung um weitere zwei Jahre verlängert wird, bezweifelt nicht nur der Betriebsrat. Gestern morgen jedenfalls reagierten die Hennigsdorfer mit einem eineinhalbstündigen Warnstreik ihren Frust ab.

Anders die Situation in der Stahlindustrie, in der niedrigere Löhne und Gehälter als in der Metallindustrie gezahlt werden. Hier gibt es nach Ansicht der IG Metall einen Nachholbedarf. Am Wochenende waren die Verhandlungen gescheitert, weil die IG Metall die einfache Übernahme des Sachsen-Modells ablehnt. Die ostdeutsche Stahlindustrie geht damit ohne Aussicht auf schnelle Kompromisse in die dritte Streikwoche.

In Mecklenburg-Vorpommern sind die Übernahmeverhandlungen am Wochenende daran gescheitert, daß keine Einigung über die Behandlung der Leistungszulagen für Angestellte gefunden werden konnte. In Sachsen gibt es derartige Zulagen nicht, so daß der Dresdner Kompromiß in diesem Punkt kein Vorbild ist. In den Streikbetrieben Mecklenburg- Vorpommerns wurde auch heftiger Unmut über den sächsischen Kompromiß laut. IGM-Bezirksleiter Frank Teichmüller, Verhandlungsführer der IG Metall in Mecklenburg-Vorpommern, stellte nach Bekanntwerden des Sachsen-Kompromisses bei den Streikenden eine „ungeheure Erleichterung, aber auch großen Frust“ fest — Erleichterung über das Ende des Konflikts, Frust über das Ergebnis. Martin Kempe