Mildes Urteil mit brisanten Folgen

■ Prozeß gegen Totalverweigerer Sören Sieg endete mit Verwarnung / Richter: Ersatzdienst vom Grundgesetz gedeckt

endete mit Verwarnung / Richter: Ersatzdienst vom Grundgesetz gedeckt

Obwohl das Landgericht Hamburg den Totalverweigerer Sören Sieg gestern wegen „Dienstflucht“ verwarnte, also optisch ein relativ mildes Urteil sprach, war der Richterspruch für Anwältin Gabi Heinecke „der Hammer“. Denn Landrichter Dr. Jürgen Franke hat erstmals in einem Urteil festgeschrieben, daß der Ersatzdienst vom Grundgesetz gedeckt sei.

Sören Sieg hatte 1986 — drei Monate vor dem Ende — seinen Zivildienst mit drei weiteren Totalverweigerern kollektiv quittiert. Grund: Im Ernstfall würden Zivildienstleistende im Katastrophenschutz eingesetzt, seien somit Bestandteil der Kriegsmaschinerie. Sören Sieg verwies vor Gericht auf einen Kriegsstrategen, der offen zugegeben hat, daß im Kriegsfall ein Zivildienstleistender in einem atomwaffenverseuchten Gebiet wesentlich wertvoller sei als ein Soldat an der Waffe.

In einem Rechtsexkurs zeigte Sieg überdies auf, daß die in den 50er Jahren vom Bundestag gegen den Willen der Bevölkerung durchgepeitschte Remilitarisierung der Bundesrepublik verfassungswidrig gewesen war. Die Regierenden hätten damals zahlreiche Bundeswehrgegner verhaftet und kritische Organisationen sowie eine Volksabstimmung verboten. Dennoch hätten 9,5 Millionen Menschen bei einer illegalen Volksabstimmung gegen die Wehrpflicht votiert.

Obwohl viele Verfassungsspezialisten der Meinung sind, der Zwang durch Zivildienst sei vom Grundgesetz und dem Gesetz zur Allgemeinen Wehrpflicht nicht gedeckt, machten die Juristen in der Vergangenheit erbarmungslos Jagd auf Totalverweigerer. Sören Siegs Gesinnungsgenossen Heiko Streck und Frank Deutsch wurden zu neun Monaten Knast ohne Bewährung verurteilt. Im vergangenen Herbst wurde dann aber erstmals ein Totalverweigerer freigesprochen.

Auch Landrichter Franke wollte Milde zeigen, indem er gegenüber Sören Sieg lediglich eine Verwarnung aussprach. In der Urteilsverkündung verhedderte sich der Richter aber gewaltig. Entgegen der Auffassung vieler Juristen geht Jürgen Franke davon aus, daß der Zivildienst durch das Grundgesetz abgedeckt sei. Da gegen das Urteil keine Revision möglich ist, hat er damit Rechtsgeschichte geschrieben. Gabi Heinecke: „Das Gericht geht von einem verfassungsrechtlichen Grundentscheid für den Zivildienst aus. Den gibt es aber nicht.“ Zudem hegt Franke Zweifel, daß Sören Sieg aus Gewissensgründen den Zivildienst abgebrochen hat. Der Schritt sei „agitatorisch“ gewesen, weil er kollektiv erfolgte. Die Folge: Da Sören Sieg nunmehr kein Totalverweigerer aus Gewissensgründen ist, könnte er theoretisch gezwungen werden, den restlichen Zivildienst abzuleisten. kva