Nicht nur Häufchen Elend

■ Journalistinnenbund diskutierte über "Gewalt als politische Verantwortung"

„Es gibt nichts Aufregenderes als die Wirklichkeit.“ – So lautete der Leitspruch von Egon Erwin Kisch. Wirklichkeit, das sind heute weltweit mehr Kriege als je zuvor seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Wirklichkeit sind Rostock und Mölln, sind die Berichte über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien oder über Somalia. Wirklichkeit, so veranschaulicht es die „Tagesschau“ jeden Abend pünktlich ab acht, ist, wie es scheint, in erster Linie Gewalt.

„Gewalt – Die politische Verantwortung von Journalistinnen“, unter diesem Titel versuchten Journalistinnen aus allen Mediensparten am vergangenen Sonntag, sich dem Gewaltphänomen zu nähern. Eingeladen hatte der Deutsche Journalistinnenbund im Rahmen seiner 6. bundesweiten Jahrestagung nach Berlin, und etwa 60 Journalistinnen waren dem Ruf in die „schwangere Auster“ genannte, Westberliner Kongreßhalle gefolgt, die heute das „Haus der Kulturen der Welt“ beherbergt.

Die Wahrnehmung von Gewalt, sowohl in der Wirklichkeit als auch in den Medien, stand im Mittelpunkt der Diskussion. „Seit dem 1. Mai hat die Gewalt auch Moskau erreicht“, meinte Elfie Siegl, Moskau-Korrespondentin der FAZ. Wohnungseinbrüche seien in der russischen Hauptstadt an der Tagesordnung. Berichte über Vergewaltigungen würden in den Moskauer Tageszeitungen zunehmend einen vorrangigen Platz einnehmen. Daß diese Berichterstattung nicht aus einer feministischen Perspektive geschieht, daß sie die vergewaltigten Frauen viel häufiger zu erneuten Opfern – diesmal von sensationsgierigen Journalisten – macht, darauf wies die in Köln lebende freie Publizistin Erica Fischer hin.

Was nach Bekanntwerden der Massenvergewaltigungen im ehemaligen Jugoslawien in den Medien zählte, waren Bilder von erschütterten, weinenden Frauen.

Perfekte Opfer mit perfekten Englischkenntnissen gesucht

Man übertrumpfte sich gegenseitig mit Zahlen über die Gewalttaten. Und westliche Journalisten traten an das Zagreber Frauenhaus mit der Aufforderung heran, ihnen doch für ein schnelles Interview mit Foto eine „echte“ vergewaltigte Frau aus Bosnien zu besorgen, die möglichst englisch spreche: pervertierter Journalismus, um Einschaltquoten zu sichern und ein auf Gewaltspektakel fixiertes Publikum zu befriedigen. „Das Thema Vergewaltigung“, so Erica Fischers Resümee, „wurde uns aus der Hand genommen.“ Sie plädierte für eine differenziertere Berichterstattung, die einschließt, daß vergewaltigte Frauen nicht nur jämmerliche Häufchen Elend sind, wie es die Mediendarstellung gern impliziert, sondern „durchaus selbstbewußte Frauen, die ihr Leben nach der Gewalterfahrung meistern“.

Die These der Kommunikationswissenschaftlerin Barbara Mettler-Maibom aus Essen, daß heute, nach dem Zusammenbruch der klaren Fronten zwischen Ost und West, keine eindeutige Trennung zwischen Tätern und Opfern mehr vorgenommen werden könne, da Täter stets auch Opfer, Opfer stets auch Täter seien, illustrierten verschiedene Wortbeiträge denn auch gleich ganz pragmatisch mit eigenen leidigen Erfahrungen. „Wenn ich ambitioniert an einem Artikel über Gewalt sitze“, so Gesine Strempel vom SFB, „dann übe ich gleichzeitig Gewalt gegenüber meinem Sohn aus, wenn ich gesagt habe, ich komme um drei nach Hause und tatsächlich komme ich erst um sieben.“

Und Heide Ulrike Wendt, beim Hamburger Magazin Stern für die neuen Bundesländer und die Befindlichkeit des Ostens zuständig, sieht sich nicht selten in der Zwickmühle, wenn sie einerseits über ein Asylbewerberheim berichten soll, andererseits vor Ort die internen Streitigkeiten zwischen dessen BewohnerInnen mitbekommt. Daß es auch unter Flüchtlingen Hierarchien gibt, daß auch Flüchtlinge rassistisch von anderen Asylbewerbergruppen sprechen, bereitet der Journalistin Gewissenskonflikte. Denn sie könnte mit entsprechenden Berichten im Stern durchaus „Öl ins Feuer des Fremdenhasses“ gießen.

Daß Gewalt Faszination ausübt, verdeutlichen nicht nur die Einschaltquoten von Reality-Shows im Fernsehen oder die Ausleihgewohnheiten von Videothekbenutzern. Vera Gaserow, taz-Mitgründerin und mittlerweile freie Journalistin, verwies auf den Beliebtheitsgrad der Skinheads bei den Fernsehsendern. Nach Rostock brauchte jede Station ihren Skin, der „Ich mach sie platt!“ ins Mikrophon pöbelte.

Was nach Rostock politisch in Bewegung gesetzt wurde, von Lichterketten bis hin zu Politikerbekenntnissen, so Gaserow, könne von den Skins nur als gelungene Selbstdarstellung und Erfolgserlebnis eingestuft worden sein. Trotz aller Gewaltdarstellung in den Medien, bei deren Anblick – das betonte so manche Teilnehmerin – sie den Fernseher ausschalten würde, wollte keine so recht für ein „Gewaltverbot“ plädieren. Immerhin gelte es ja, die Wirklichkeit abzubilden. Angesichts der in Moskau erlebten Zensur von Fernsehen, Hörfunk und Zeitungen zur Zeit der früheren UdSSR blieb auch Elfie Siegl zögerlich.

Nur Vera Gaserow plädierte für eine verschärfte Anwendung von Instrumenten wie der FSK, der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmindustrie. „Wenn wir Journalistinnen glauben, daß wir mit unserer Arbeit Positives bewirken können, dann leuchtet mir nicht ein, warum Medien nicht auch Negatives bewirken können.“ flo