Wie ein Fußball hin- und hergekickt

Eine Flüchtlingsgeschichte zwischen Ost- und Westdeutschland, erzählt von  ■ Isabel Nieto und Hashim Tabibi

Im Herbst 1990 – kurz nach der deutschen Wiedervereinigung – stellten sie ihren Asylantrag in Hessen. Nach zwei Monaten erhielten sie eine Transferaufforderung in die Ex-DDR. Trotz ihres Widerspruchs gegen diesen Bescheid, mußten sie Anfang 1991 die Reise nach Sachsen-Anhalt antreten. Vorher jedoch wurde ihnen versichert, daß es keinen Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland gäbe. „Aber dort merkten wir schnell, daß sie uns angelogen hatten – der Unterschied war wie Tag und Nacht.“

In dem kleinen Ort angekommen, wurden sie mit einer anderen Familie in ein Zwölf-Quadratmeter-Zimmer gepfercht. In dem mit 40 Personen belegten Haus gab es keine Gemeinschaftsräume und nur eine Dusche für alle – im unbeheizten Keller. Als mehrere Kinder an chronischer Bronchitis erkrankten, attestierte der im Nachbarort ansässige Kinderarzt, daß das Heim für die langfristige Unterbringung von Familien ungeeignet sei. Die desolate Unterbringungssituation wurde durch die totale Isolation im Dorf verschärft.

„Ich glaube, wir waren die ersten Ausländer, die dort lebten und die Leute wollten uns nicht.“ Anfeindungen, die sie vom ersten Tag an ertragen mußten, verwandelten sich schon bald in Angriffe. Zuerst gegen das Heim in Form von „Asylanten raus“–Sprühereien, dann gegenüber einzelnen Flüchtlingen, die auf der Straße bedroht wurden und schließlich gegen alle durch nächtliche Schüsse auf das Heim. Sie schrieben Petitionen an PolitikerInnen und Behörden im Westen, in denen sie ihre Lage schilderten und baten, an einen sicheren Ort gebracht zu werden. „Manche schrieben uns, daß wir dort bleiben müßten, weil das Gesetz so ist. Andere, daß es nur am Anfang schwer sei, bis die Ostdeutschen lernen, mit Flüchtlingen zu leben.“ Die „Anfangsschwierigkeiten“ legten sich jedoch nicht. In den Sommermonaten wurde das Heim an jedem Freitag- und Samstagabend zum Treffpunkt für Skinheads. „Wir lebten in einem Belagerungszustand. Frauen und Kinder schliefen in einem Zimmer, die Männer hielten im Erdgeschoß Wache und wechselten sich tagsüber mit dem Schlafen ab.“ Wochenlang trauten sie sich nur in Gruppen, die Unterkunft zu verlassen.

Schutz durch Wachleute oder Polizei gab es in der gesamten Zeit nicht. Während des Progroms von Hoyerswerda wurden die Flüchtlinge von der örtlichen Ausländerbeauftragten, der Heimleitung und der Polizei vor Angriffen am Tag der deutschen Einheit gewarnt und mit Verhaltensmaßregeln instruiert. „Wir sollten Wassereimer bereithalten.“

Die Flüchtlinge klagten minimale Sicherheitsstandards ein – forderten vergitterte Fenster, Feuerlöscher und einen Telefonanschluß – die ihnen, wie auch eine vorübergehende Evakuierung aus finanziellen Gründen, verwehrt wurden. „Wir sind nicht geflohen, um uns hier totschlagen zu lassen, es hatte wenig Sinn, auf die Polizei zu hoffen, sie kam immer erst dann, wenn alles schon vorbei war.“ Die Familie entschloß sich erneut zur Flucht. Wie viele hundert vor ihnen kehrten sie zurück nach Hessen und begehrten dort „Asyl“. In der hessischen Gemeinschaftsunterkunft für ausländische Flüchtlinge in Schwalbach (HGU) wurden sie vorübergehend aufgenommen. In dem Großlager waren zu dem Zeitpunkt fast ausschließlich RückkehrerInnen aus den neuen Bundesländern und Flüchtlinge, die sich weigerten, dorthin zu gehen. „Wir warteten wochenlang auf eine positive Antwort, viele andere schon seit Monaten.

Es gab viele Demonstrationen und Streiks in Schwalbach wegen dieses DDR-Problems. Erst nach einem langen Hungerstreik bekamen wir die Zusage für einen Transfer nach Hessen.“ Noch mehrere Monate mußten sie in dem restlos überfüllten Lager zubringen, bis sie im Frühjahr 1992 der Stadt Frankfurt zugewiesen wurden. Seitdem leben sie in einem Hotelzimmer und hoffen auf ihre Anerkennung. „Im Westen ist alles anders. Wir können arbeiten, wir haben einen Rechtsanwalt, lernen deutsch. Das Leben wird ein bißchen normal.“ Als sie nach Deutschland flohen, glaubten sie sich in Sicherheit. „Wir wußten nicht, daß Deutschland ein unzivilisiertes Land ist, in dem Flüchtlinge wie ein Fußball hin und hergekickt werden und Menschen lernen müssen, uns nicht totzuschlagen.“

Die Geschichte ist anonymisiert worden, um die Sicherheit der Familie nicht zu gefährden.