Braucht der Westen Osteuropa?

Jacques Attali fordert einen gesamteuropäischen Binnenmarkt – und viele West-Banker unterstützen ihn darin  ■ Aus London Kathrin Singer und Michael Reuter

Es geht nur schleppend voran mit der Entwicklung neuer West- Ost-Wirtschaftsbeziehungen in Europa. Diese Erkenntnis scheint das Denken westlicher Bankmanager nachgerade zu revolutionieren. So unterbreitet der Präsident der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE), Jacques Attali, immer neue Vorschläge, die kraß gegen eherne Grundsätze der Banker-Kaste verstoßen: Schuldenerlaß für Rußland forderte er im März, und nun schob er die Idee der baldigen Bildung eines gesamteuropäischen gemeinsamen Marktes nach.

Beiden Vorschlägen liegt eine Lageeinschätzung zugrunde, die sich von der weitverbreiteten westlichen Siegerpose deutlich unterscheidet. Die ökonomische Situation Europas, so Attali, sei „ernsthaft bedroht“ nicht nur durch die Umbrüche im Osten, sondern auch und erstrangig durch die Entwicklung im Westen: die tiefer werdende Rezession, das Anwachsen der Arbeitslosigkeit, den Anstieg der Kurzarbeit, die zu hohen Zinsraten und Budgetdefizite und Halbherzigkeiten bei der Ratifizierung der Maastricht-Verträge.

Der Handel zwischen Ost und West, so Attali am 26. April wörtlich, „bleibt begrenzt sowohl durch die protektionistischen Gesetze des Westens als auch durch die geringe Kaufkraft des Ostens“. Der Schuldenerlaß soll – gekoppelt mit einem Programm rascher Privatisierung und der Schaffung einer effizienten markt- und finanzwirtschaftlichen Infrastruktur – Produktions- und damit Kaufkraft schaffen. Und mit dem neuen gemeinsamen Markt will Attali verhindern, daß die Osteuropäer sich nun Land für Land dem langwierigen EG-Aufnahmeverfahren unterwerfen müssen und damit noch lange dem „inneren Zirkel“ ferngehalten werden.

Für Attali kann der Weg aus der jetzigen Krise in Westeuropa nur über einen tiefgreifenden und strukturell stabil untermauerten Aufschwung im Osten führen. Darum warnt er auch vor einem wachsenden westlichen Egoismus, zu dem die Rezession verleiten könnte. Offene Westmärkte sieht er als Chance für neue Arbeitsplätze im Osten, und die wiederum als Chance für östliche Kaufkraft und damit neuen westlichen Absatz.

Ist also Attali der „gute Mann“, gläubig auf die Selbstheilungskräfte des Marktes hoffend und diese Hoffnung mit der politischen Schuldenerlaßforderung lediglich ein wenig verbrämend? Es steckt vermutlich mehr dahinter. Vor alllem wohl das Gefühl, dem großen gemeinsamen Markt der USA, Kanadas und Mexikos (Nafta) einerseits und der Einflußzone Japans im Fernen Osten andererseits jetzt energisch ein wirtschaftlich „neues Europa“ entgegensetzen zu müssen. Das scheint ihm Schritte des Teilens, wie sie ein Schuldenerlaß ja verkörpern würde, wert zu sein. Und dann auch die Furcht, anhaltende politische Instabilität im Osten könne Europa gerade in diesem Konkurrenzdreieck mit den USA und Japan empfindlich schwächen.

In seinen politischen Forderungen erhält Attali erstaunlich vielfarbige Rückendeckung durch andere Spitzen der Bankenwelt, die sich in den letzten Jahren in Osteuropa engagiert haben. Und zwar aus unterschiedlichsten Motiven und Einsichten heraus – und erstaunlich gerade deshalb, weil die EBWE in ihren Gründungsdokumenten eigentlich zur Wahrung „gesunder Bankgrundsätze“ – sprich: reinen Gewinnorientierung – verpflichtet ist.

Verfahre man nach diesem Grundsatz, sagt zum Beispiel Hans-Jörg Rudloff vom Credit Suisse, werde man für Osteuropa nicht zur Hilfe, sondern zur Gefahr, weil Kollisionen mit dem jeweiligen lokalen Interesse unvermeidlich seien. Um diese zu begreifen, müsse man sich von der Vorstellung der emerging markets – der aufstrebenden Märkte – lösen. Die Länder Osteuropas seien solche aufstrebenden Märkte nicht, sie seien nicht vergleichbar etwa mit Südkorea oder Taiwan, Argentinien oder Chile. Es gehe nicht um den Neubau einer Wirtschaft, sondern um deren Transformation, und zwar eingebettet in eine Transformation der gesamten Gesellschaft. Dieser Prozeß sei qualvoll und langwierig, aber er bietet am Ende große Chancen, weil er sich auf eine bereits existierende Wirtschaft, auf gut ausgebildete Arbeitskräfte und auf eine bestehende Infrastruktur – also auf bereits entwickelte Wirtschaften – stützen könne.

Der Westen freilich müsse die Kraft zur langfristigen Finanzhilfe, zur politisch geregelten Kreditbewilligung, zur Hilfe für die Entwicklung der inneren Stärken der Länder Osteuropas haben. Und was den Zugang des Ostens zu den Westmärkten betrifft, so müsse der verknüpft sein nicht mit einem gleichgearteten Zugang des Westens zu den Ostmärkten, sondern mit einem geregelten Schutz der Ostmärkte vor der westlichen Konkurrenz. Auch Japan, Südkorea und Taiwan hätten Jahrzehnte der geschützten Entwicklung ihrer inneren Märkte für sich in Anspruch genommen.

„Innere Stärke“: auf diese Formel kommen auch zu sprechen Max Berger von Nestlé, David Hunter von Asea Brown Boveri oder Glenn H. Sacra von Spacenet International (USA) – alles Leute, die aus ihrer Überraschung kein Hehl machten, bei ihrem jetzigen Engagement für die Modernisierung und Umstrukturierung von Betrieben in der Tschechischen Republik, in Polen und in Rußland einen ganz anderen Osten als erwartet angetroffen zu haben. Die Probleme der Umgestaltung – so die einhellige Auffassung – habe man unterschätzt.

Aber unterschätzt habe man auch das vorhandene Produktions- und Ausbildungsniveau. Viel schneller als geplant habe man neue Betriebsteile in die Hände des lokalen Managements und der Belegschaft legen können, und erstaunlich gut habe sich die Zusammenarbeit entwickelt. All das macht noch lange keinen Aufschwung. Aber es sind immerhin Signale, von denen sich Politiker eine Scheibe abschneiden können.