Zelebrierte Prüderie

■ Wedekinds "Frühlings Erwachen" von Kreidt/Stegemann

von Kreidt/Stegemann

1906 zur Uraufführung spielte Frank Wedekind selbst den „vermummten Herrn“ seiner Kindertragödie Frühlings Erwachen, trat in dem 15 Jahre verbotenen Stück einer falschen Moral und mangelnder Kinderaufklärung entgegen, rügte die Eltern und Professoren: Moritz bringt sich aus Angst vor den Eltern um, Wendla stirbt bei der Abtreibung ihres Kindes, von dem sie nicht einmal weiß, woher es gekommen ist.

Heute spielt Regisseur Martin Kreidt den vermummten Herrn in seiner Inszenierung, die er anläßlich der Diplomprüfung von Dramaturg Bernd Stegemann auf der Probebühne des Schauspielhauses ausrichtete. Stegemann ist dem Text mit einem gewaltigen Rotstift zu Leibe gegangen: Die Generationsgrenze ist aufgehoben. Professoren, Pastor und Arzt sind gestrichen. Die Kinder selbst treten in Anzug und Krawatte auf, übernehmen teilweise den Text der Professoren. So ist das Auklärungsproblem einer allgemeinen Emotionslosigkeit, einer neuen Prüderie gewichen - ein schlüssiges Konzept, Wedekinds Stück in Zeiten von Sexualunterricht und Zeugnisnottelefon zu spielen.

Kreidt zeigt die vielen, oft stark verkürzten Szenen im schnellen Durchlauf, fast ohne Requisite. Singend wie die sieben Zwerge treten hier Buben und Mädels auf, spielen Erwachsene. Die einzigen Menschen darunter sind Moritz (Manfred Kessens) und die ewig lächlelnde, romantisch-verklärte Wendla (Lara Körte). Die anderen Figuren erzeugen in ihrer Verkrampfung Momente absurder Situationskomik. Davon hätte es ruhig etwas mehr sein können, zumal Kreidt ausnahmslos überzeugende Schauspieler zur Verfügung standen.

Der intelektuelle Grübler Melchior wird von Alexander Geringas als altkluger Möchtegern-Dandy gezeigt. Er gibt sich so erhaben, so edel, man weiß gar nicht, wie er es schafft Wendla zu schwängern.

Dieser Akt wird von Kreidt als Partnerschaftsturnen, schließlich halb hinter der Bühne gezeigt. Die

1Zöglinge der Korrektionsanstalt, zwei tätowierte Debile, onanieren an ihren Nasen. Hänschen und Ernst verzichten auf die innigen Küsse, ein Wangenbussi genügt. Und die Abtreibung? Wendlas Mutter trägt Handtücher, Schüsseln und Werkzeug über die Bühne. Mehr nicht. Kreidt versteckt bewußt all das, was Wedekind endlich auf die Bühne bringen wollte. Die Prüderie wird zelebriert - ob das so sinnvoll ist, bleibt fraglich. Immerhin erspart er uns die abgestandenen Kinderprobleme. Niels Grevsen

Noch bis 25. 5., jeweils 20 Uhr, Probebühne Schauspielhaus