"Kinderprostitution ist kriminell"

■ Kampagnen gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern: Auf einer internationalen Konferenz in Stuttgart zogen Hilfsorganisationen eine Bilanz ihrer Arbeit

Einige Momente lang sinnierte Martin Stäbler, Tourismusexperte der Evangelischen Kirche in Deutschland, über die karitative Arbeit und meinte etwas bitter, daß man sich mit den Scherben der Konsumorientierung dieser Gesellschaft befasse. Das wird er nicht falsch interpretiert haben: Während international großartig am Prostitutionstourismus verdient wird, thematisieren die Vertreter internationaler Hilfsorganisationen, die ins Tagungszentrum der evangelischen Kirche angereist waren, die menschlichen Schäden, die daraus entstehen. Schätzungsweise jeder zweite Thailand-Tourist reist des Sexabenteuers wegen nach Asien. Der Ressourcenverschleiß für die touristischen Bedürfnisse macht nicht halt bei Landschaft, Natur und Kultur, sondern ist in den letzten 20 Jahren massiv zur Ressource „Körper“ vorgedrungen. Der Prostitutionstourismus boomt und neuerdings vor allem die Kinderprostitution.

Der sexuelle Mißbrauch von Kindern hat eine beeindruckende Zahl von Hilfsorganisationen zu einer internationalen Kampagne gegen Kinderprostitution, der ECPAT (End Child Prostitution in Asian Tourism), zusammenfinden lassen. Die Initiative ging 1990 von Thailand aus. Neben der internationalen Kampagne mit Sitz in Bangkok (Träger: Ecumenical Coalition on Third World Tourism, Christian Conference of Asia, Federation of Asian Bishop's Conference, Unicef, Internationales Katholisches Kinderbüro, North American Network on Tourism, Third World Tourism European Ecumenical Network) agieren auf den Philippinen, in Thailand, Sri Lanka und Taiwan Länderbüros; in zahlreichen Ländern wurden nationale Unterstützungskomitees gegründet. Die deutsche Kampagne beispielsweise wird ihrerseits von 26 Initiativen getragen, die schweizerische von über 30 Verbänden. Das Ziel der Arbeit besteht für ECPAT vor allem darin, die Öffentlichkeit wachzurütteln und für die Vorgänge auf dem Sexmarkt mit Kindern zu sensibilisieren. Denn die Situation ist kraß, wie die Konferenzteilnehmer mit blanken Zahlen verdeutlichten: In Manila allein soll es 20.000 Kinderprostituierte (Jungen wie Mädchen) geben, für Indien wird eine Zahl von 300.000 bzw. 400.000 angegeben, die Schätzungen für Thailand schwanken zwischen 200.000 und 800.000, in Sri Lanka werden 30.000, überwiegend Jungen, in der Prostitution vermutet, in Taiwan 70.000 Kinder, für Pakistan und Vietnam sollen nochmals etwa 80.000 hinzukommen. Kinder werden gar verschleppt, beispielsweise aus Nepal nach Indien; oder neuerdings auch – wie aus Thailand – exportiert. Die Kinderprostitution ist beileibe nicht auf den asiatischen Raum beschränkt: In Brasilien und Kenia wird eine ähnlich krasse Situation vermutet; New York soll Manila zahlenmäßig in nichts nachstehen, und selbst in Großstädten wie Paris sollen 8.000 Kinder in der Prostitution arbeiten. Exakte Zahlen gibt es nicht, man bewegt sich in der Grauzone von Legalität und Illegalität und ist mit eisernem Schweigen konfrontiert.

Nicht überall geht die Kinderprostitution auf die touristische Expansion zurück. Worauf die Schweizer Initiative in ihren Untersuchungen hinweist, nehmen in Ländern wie Brasilien vor allem Einheimische die Sexleistungen in Anspruch; in Thailand wird der Markt von Einheimischen wie Touristen bestimmt; es sind vor allem Sri Lanka und die Philippinen, deren Kinderprostitutionsmarkt auf die Nachfrage durch Ausländer zurückgeht. Insgesamt hat die Nachfrage nach Kindern gravierend zugenommen. Der internationale Tourismus hat daran vor allem im asiatischen Raum einen entscheidenden Anteil. In diesen Raum transportiert er beispielsweise auch die patriarchalen Grundmuster westlicher Gesellschaften: Es werden Abhängigkeiten geschaffen, die in einen „Teufelskreis“ münden. Die touristische Nachfrage trifft hier auf die wachsende Verelendung großer Bevölkerungsschichten, deren hilflose Lage schlicht ausgebeutet wird. Es gibt kein Schuldbewußtsein unter den Männern, die im Ausland Kinder mißbrauchen, ganz im Gegenteil verstehen sie sich in der Regel als Glücksbringer, die armen Kindern etwas Gutes tun.

„Kinderprostitution ist kriminell.“ Die Position der Kampagne ist eindeutig und wird in dieser Schärfe auch von der Präsidentin des Deutschen Bundestages, Rita Süssmuth, geteilt, die den Eröffnungsvortrag hielt. Heidi Sörensen von der Evangelischen Landeskirche fand drastische Worte und bezeichnete den Mißbrauch als „eines der widerwärtigsten Symptome menschlicher Perversion“. Kriminell ist Kinderprostitution vor allem deshalb, weil sie die kindliche Abhängigkeit ausnutzt und die psychosexuelle Entwicklung eines Menschen schwer beeinträchtigt. Eine Ausstellung zum sexuellen Mißbrauch an Kindern in Deutschland, die während der Konferenz gezeigt wurde, informierte über die seelischen Schäden, die Kindern zugefügt werden. Von asiatischen Hilfsorganisationen ist zu erfahren, wie schwierig die Rehabilitationsarbeit ist: Die Traumatisierungen sind so stark und Alternativen zur Prostitution so spärlich, daß für die betroffenen Kinder kaum Aussichten für eine andere Lebensplanung gegeben sind. Ob Kinder nun von ihren Familien verstoßen wurden, ob sie verkauft oder verschleppt wurden, ob sie von selbst die familiären Verhältnisse flüchteten oder gar freiwillig in die Prostitution gegangen sind, um ihre Familien zu ernähren – in der Prostitution haben sie die einzig noch tragfähige Überlebensstrategie gefunden.

In den drei Jahren ihrer Aktivität verbuchte ECPAT jetzt vor allem als Erfolg, daß das Schweigen gebrochen ist und die Kinderprostitution öffentlich thematisiert wird. Von den Betroffenen ausgehend, wurde die Problematik von den Entsenderländern aufgegriffen. In der Schweiz wurde die Kampagne bewußt in den Zusammenhang mit dem Kindesmißbrauch im eigenen Land gestellt, um „Parallelen zwischen der sexuellen Gewalt gegen Kinder in der Ersten und Dritten Welt aufzuzeigen“. Man kehrte vor der eigenen Haustür, denn, so das Argument, die sexuelle Gewalt gegen Kinder nehme nicht nur in der Dritten Welt zu; sexuelle Gewalt sei kein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Problem, das enttabuisiert werden müsse. Die deutsche Kampagne konzentriert sich weiterhin auf die Ursachenforschung für sexuellen Kindesmißbrauch, um gesicherte Erkenntnisse über die Tätermotivation zu erzielen.

Wie geht die Arbeit international weiter? Martin Stäbler von der evangelischen Kirche thematisierte nur am Rande der Konferenz die entwicklungspolitische Dimension einer Hilfe für die Dritte Welt, die er in einer gezielten Unterstützung ländlicher Regionen sieht. ECPAT wird sich weiterhin darauf konzentrieren, ein öffentliches Bewußtsein für die katastrophalen Zustände zu schaffen. Die parlamentarische Unterstützung, die die Kampagne mittlerweile erfahren hat, signalisiere ein neues politisches Niveau, und die vom Deutschen Bundestag geplante Verschärfung des Sexualstrafrechts sei ein Erfolg, an den sich anknüpfen läßt. Um deutsche Sextouristen, wie geplant, für ihre Taten auch in der Bundesrepublik belangen zu können, sind bilaterale Rechtshilfeabkommen nötig. Interpol ist an einer Zusammenarbeit mit ECPAT interessiert und entsandte zur Konferenz bereits eine Vertreterin. Und last, but not least will man in Deutschland gezielt auf Reiseveranstalter zugehen: Die Veranstalter sollen sich der Verantwortlichkeit für ihre Angebote stellen. Denn so harmlos, wie sie es hinstellen, sei die Werbung mit schön verpackten Sexbotschaften auch nicht. Christel Burghoff