Ein Rolls Royce ist kein Kleinwagen

Wynton Marsalis, ab heute auf Deutschland-Tournee, über Basketball, Beethoven, Ballettmusik und den philosophischen Gehalt von Jazz.  ■ Von Werner Stiefele

Der Vorname Wynton genügt, und Jazzfans wissen Bescheid: Wynton Marsalis, am 18. Oktober 1961 in New Orleans geboren, Trompeter. Seit er 1980 Mitglied von Art Blakey's Jazz Messengers wurde und 1983 seine erste Platte als Bandleader veröffentlichte, ist er das, was man einen „umstrittenen“ Musiker nennt. Eine breite Koalition von Verfechtern der Avantgarde bis hin zu Anhängern des swingenden Mainstream sieht bei Marsalis akademischen Traditionalismus am Werk; die Fans dagegen loben seinen Stil als virtuose, aus der Tradition schöpfende Weiterentwicklung des Jazz. Daß Marsalis als Klassik- wie auch als Jazztrompeter jeweils mehrmals mit dem „Grammy“ ausgezeichnet wurde, macht ihn vollends zum Exoten in der ansonsten streng nach Sparten abgeschotteten Szene. Auf seiner aktuellen CD, der im Februar als Doppelalbum veröffentlichten Ballettmusik „Citi Movement – Griot New York“, montiert das Wynton Marsalis Septet Elemente aus den wichtigsten Phasen der Jazzgeschichte – Klänge von Marching Bands, Gospel, Swing, Bebop, Hard Bop, Modalem Jazz und Free Jazz – zu einer „postmodernen“ Stilkombination, dem Abbild einer pulsierenden Großstadt.

taz: Bevor Sie zu essen begannen, sah ich Sie beten. Sind Sie religiös?

Wynton Marsalis: Nein. Außerdem sind spirituelle Angelegenheiten etwas sehr Persönliches. Ich glaube an keine Religion. Ich zolle Gott meine Achtung, danke dem Schöpfer. Er ist eine Quelle der Kreativität im Universum. Alles kommt von dem Schöpfer. Die Kreativität fließt durch alles, wie Elektrizität.

Sie erwähnten die Kirchenmusik. Machen Sie oft in Kirchen Musik?

Ja. Vor allem als Kind. Bach, Händel.

Also europäische Kirchenmusik.

Kirche ist Kirche. Gregorianische Gesänge, etwas von Giovanni Gabrielli. Große Bläserchoräle, gespielt in Kathedralen.

Sie gehören als Klassik- wie auch als Jazztrompeter zur Weltspitze. Was ist für Sie interessanter?

Der Jazz. Ich improvisiere lieber. Aber die Klassik macht auch Spaß.

Sie wurden mit 19 Jahren ein Weltstar. Nun ist Ihr Vater Ellis einer der besten Klavierlehrer in New Orleans...

Ich hatte bei ihm keine Stunden. Ich bin Trompeter und hatte einen Trompetenlehrer.

Aber es muß etwas Besonderes an ihm sein. Immerhin wurden Sie Trompeter, Ihr Bruder Branford Saxophonist, Delfeayo Produzent und Posaunist sowie Jason Schlagzeuger. Also wurden vier von sechs Kindern Musiker.

Das ist in New Orleans nichts Besonderes. Erst seit zwei Jahren quatscht jeder über die Marsalis- Family. Mein Vater kämpfte darum, sich in New Orleans durchzusetzen. Mit modernem Jazz, der die Leute nicht interessierte.

Und das war alles?

Er war ein ernsthafter Mann. Wir gingen oft zu kulturellen Ereignissen. Auch wenn wir Kinder nicht besonders scharf darauf waren, eine Symphonie oder ein Ballett zu sehen, mußten wir mit.

War es für Sie sehr früh klar, daß Sie Musiker werden würden?

Nein. Ich wußte das mit 17 noch nicht. Branford und ich waren damals nicht besonders gut. Wir spielten Funk und Rock und machten eben die Art von Gigs, die man bekommen konnte. Delfeayo konnte noch nicht spielen, und Jason war erst drei Jahre.

Was wollten Sie damals werden?

Basketballspieler. Die Band spielt auch heute noch jeden Tag Basketball. Zumindest in den USA gehen wir täglich in eine Turnhalle. Wenn wir in einer fremden Stadt sind, fragen wir nach einer Halle oder einem Bolzplatz.

Was mögen Sie an diesem Spiel?

Die Technik, die Hingabe, den Fluß des Spiels.

Und am Jazz?

Dasselbe.

Würden Sie Rock und Funk heute wieder spielen?

Nein. Ich bin jetzt erwachsen. Rock ist für Kinder. Der Rhythmus von Rock und Funk ist das Gegenteil des Herzschlages. Lassen Sie mich die Musikstile auseinanderhalten. Jazz ist die am weitesten entwickelte Form der amerikanischen Musik. Das heißt nicht, daß Funk schlecht ist. Nur mag ich ihn nicht. Dasselbe gilt für Rock.

Was stört Sie an Rock und Funk?

Sie beuten die Sexualität der Teenager aus. Sie haben das Zusammenleben in der Welt zerstört. Die kurzen Formen reduzieren alles auf Slogans. Ich mag Formen, die auf Entwicklungen ausgerichtet sind. Die Gruppenentwicklung im Jazz hat etwas mit Demokratie zu tun.

Inwiefern?

Eine Gruppe von Individuen trifft sich und schafft etwas Zusammenhängendes. Das ist ein sehr weit entwickeltes Konzept, denn jeder hat seinen eigenen Ausdruck, und daraus entsteht eine schlüssige Gesamtaussage, in dem sich jeder mit seinem eigenen Beitrag wiederfindet. Das ist weiter fortgeschritten als die Musik von Charles Ives.

Warum spielen Sie dann noch klassische Musik?

Weil ich sie mag. Und weil ich sie als großartige Musik respektiere. Beethoven und Bach sind großartige Komponisten. Jazzmusiker sollten die klassische Musik kennen, denn sie ist eine Komponente des Jazz.

Was hat Ihnen die klassische Musik gegeben?

Die Harmonielehre. Den Aufbau von Melodien. Auch wenn die Formen des Jazz ganz andere als die der klassischen Musik sind. Die Form des Jazz ist wie die eines Hochhauses. Das ist das Chorus- Format. Jeder Chorus wird auf den vorherigen gesetzt, während die klassische Musik der Sonatenform oder einer anderen Form folgt. Unsere Musik ist eher wie Ragtime angelegt. 16 Takte, 16 Takte, 8 Takte. Natürlich kann man eine fünftaktige Form machen oder eine zehntaktige. In längeren Stücken kann man die Form auf viele Arten frisch machen.

Hat der Jazz dies nicht auch nötig? Besteht nicht die Gefahr, daß er steril werden könnte?

Das ist unmöglich. Das sind die Philosophien gehirntoter Schreiber. Sie sind so arrogant, daß sie die Fähigkeit zum Zuhören und Lernen verloren haben. Deshalb erklären sie dem Publikum ununterbrochen diesen schrecklichen Mist. Wie sollte der Jazz steril werden? Davor schützen ihn schon die Leute, die ihn spielen. Die Popmusik ist seit 30 Jahren steril. Trotzdem machen sie dafür Werbung. Geben Sie mir die Chance, die Kinder in den USA und in der Welt zu unterrichten, und sie werden viel produktiver sein. Sie werden die Musik besser verstehen. Und die Gesellschaft und die Welt. Dann spielen sie den guten, alten Beethoven immer wieder, anstatt einfache Reime darüber zu singen, wie viele Mösen sie bekommen wollen. Das können Sie ruhig schreiben. Wenn man einen Fortschritt erreichen will, muß man das, was man zu sagen hat, vulgarisieren.

Sie gehen in die Geschichte zurück und arbeiten das, was Sie vorfinden, komplexer und in neuen Strukturen auf. Das bereichert den Jazz, wird aber nicht als so revolutionär wie die Anfänge des Bebop und die Rolle von Charlie Parker wahrgenommen.

Erstens: Nicht jeder kann das machen, was Charlie Parker machte. Zweitens: Duke Ellington revolutionierte den Jazz mehr als jeder andere Musiker in der Geschichte des Jazz. Er schrieb in den dreißiger Jahren Linien, wie sie Charlie Parker versuchte. Er erfand neue Formen, die keiner aufnahm. Er erfand ein neues System der Harmonien. Aber das wurde bisher kaum untersucht. Jeder schaut, ob ein Solist hochkommt, den er imitieren kann. Aber wie steht es mit einem Konzept der Soli, das auf thematischen Improvisationen basiert? Einem Konzept des Zusammenspiels der Gruppe? Die fortschreitende Entwicklung verschiedener Rhythmen? Wir haben das ganze Spektrum des Jazz zur Verfügung, von den frühesten Konzepten der Improvisation aus New Orleans bis zu den letzten von Ornette Coleman, John Coltrane, Charles Mingus und der letzten Band, die mit Miles Davis noch Jazz spielte. Ich habe kein Problem damit, wenn jemand etwas nicht mag. Nicht jeder kann alles mögen. Aber ich will zumindest, daß die Schreiber über die Sachen Bescheid wissen, die sie kritisieren. In der Jazzgemeinde wird konstant darauf herumgehackt, ob Miles Davis Jazz spielte und was man vom Jazzrock hält. Analysieren Sie lieber Ellingtons Musik! Lassen Sie uns versuchen, den Musikern beizubringen, im Stil von Charlie Parker zu spielen. Keiner soll denken, man könne einen neuen Charlie Parker über Nacht produzieren. Wenn ein Musikstudent Bachs Musik studiert, gibt es für ihn keinen Druck, ein neuer Bach zu sein.

Auch Sie haben schon öffentlich

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bestritten, daß Miles Davis Jazz spielte.

Warum fragt man mich, seit ich 19 bin, immer wieder dasselbe? Jeder weiß, daß ich gegen die Bastardisierung des Jazz bin. Ich bin für die Verfeinerung unserer Formen. Ich bestehe darauf: Jazz hat einen philosophischen Gehalt. Musik kann helfen, wie man mit seiner Freundin oder Frau umgehen soll. Kunst ist eine sehr ernsthafte Sache, denn sie hat mit der Intensität von Verhältnissen zu tun. Miles Davis stand vor Leuten, spielte Songs von Michael Jackson und versuchte, ein Popstar zu werden. Das war der Stil von Musik, gegen den ich war und bin. Ich habe nichts dagegen, daß er sich dafür entschieden hat. Ich habe nichts gegen ihn. Aber es ist kein Jazz. Miles Davis selbst hat das auch nie behauptet. Er sagte, das sei Unterhaltungsmusik. Die Begriffe sind durcheinander. Man sollte Festivals mit Jazz, Funk, Rock und so weiter ein „Musikfestival“ und nicht ein „Jazzfestival“ nennen. Schließlich spricht niemand von einem Opernfestival, wenn Opernsänger Rodgers and Hammerstein singen. Das ist, als ob Sie einen Rolls Royce bestellt hätten und Ihnen der Händler mit der Bemerkung, das sei dasselbe, nämlich ein Auto, einen Kleinwagen hinstellen würde.

Und wie sehen Sie Ihre Position in der Jazzgeschichte?

Wir spielten das ganze Spektrum des Jazz. Wir versuchen, mit der Dynamik der Form zu improvisieren. Die Herausforderung der Jazzimprovisation besteht darin, einer potentiell chaotischen Situation Zusammenhalt zu verschaffen. Der beste Jazz wird gespielt, wo das größte Potential für Chaos besteht.

Ihr Doppelalbum „Citi Movement“ ist Ballettmusik. Wie kamen Sie dazu?

Wir machten mit der Garth Fagen Company das Ballett „Griot New York“. Es gab viele Improvisationen, aber die große Struktur war fixiert. Wir spielten bis zu festgelegten Punkten, um die sich die Abschnitte drehten.

Der akustische Jazz war in den Siebzigern und am Anfang der achtziger Jahre kaum beliebt. Jetzt hat er eine Art von Comeback. Können Sie sich erklären, weshalb die Leute wieder einen akustischen Baß hören wollen?

Weil er gut ist.

Was sind für Sie die fünf bedeutendsten Platten, die Sie den Lesern empfehlen würden?

Jelly Roll Morton, „The Pearls“. Es fällt schwer, nur fünf zu nennen, denn es gibt so viele großartige Platten. Art Tatum: „Solo Piano Master Pieces“. Jede Platte von Duke Ellington aus den zwanziger, dreißiger, vierziger, fünfziger, sechziger, siebziger Jahren. Count Basie: Die Band, die er in den Dreißigern mit Sweets Edison und Lester Young, Herschel Evans und den anderen hatte. Dann Billie Holiday: „Lady In Satin“. Alle Louis Armstrong-Platten. „Pops plays W.C. Handy“ ist großartig, ebenso „Armstrong and Ellington“. Miles Davis: „Kind of Blue“, und das Konzert mit „My Funny Valentine“. Ornette Coleman: „Shape of Jazz“. Charles Mingus: „Ah Um“. Thelonius Monk: alles. Es gibt so viele: Max Roach, Clifford Brown. Charlie Parker with Strings. Ben Webster with strings. Harry Carney with strings. Das sind einige, und trotzdem habe ich viele ausgelassen. John Coltrane: Jede, aber vor allem die späten wie „Crescent“. „Auch „Transition“ oder „Love Supreme“. Jede seiner Platten hatte eine Spiritualität, die aus der kirchlichen Musik kommt.

Heute abend in Hamburg (Stadtpark), 23. Mai München (Philharmonie), 25. Mai Berlin (Philharmonie), 26. Mai Stuttgart (Liederhalle)