■ Aung San Suu Kyi, birmesische Oppositionsführerin und Nobelpreisträgerin, über Maßstäbe in einer aktuellen Debatte
: Die Fallen der modernen Zivilisation

Seit vier Jahren lebt Birmas bekannteste Oppositionspolitikerin unter Hausarrest in Rangun. Wir dokumentieren Auszüge aus einer Rede, die ihr Ehemann an ihrer Stelle am 19.Mai an der Oxford- Universität verlas:

Der birmesische Ausdruck für Flüchtling ist dukkha-the: jemand der dukkha, Leid, ertragen muß. In diesem Sinn weiß jeder von uns, was es bedeutet, ein Flüchtling zu sein. Wir alle suchen nach einer Zufluchtstätte, die Schutz bietet vor Widrigkeiten, die uns in Unsicherheit bringen und jene physischen und psychischen Annehmlichkeiten rauben, die dem menschlichen Dasein Würde und Sinn verleihen. (...)

In einer Welt, die es nicht mehr akzeptiert, daß „gewöhnliche“ Viren und Krankheitserreger unkontrolliert unter den Schwachen und Schutzlosen ihren Tribut fordern, scheint die Frage angebracht, ob nicht mehr Aufmerksamkeit darauf verwendet werden sollte, die „gewöhnlichen“ Verhaltensweisen und Werte zu korrigieren, die die Menschheit viel lebensbedrohlicher gefährden. Ich möchte einige Überlegungen zu diesen Verhaltensweisen und Werten anstellen, die in einer zunehmend materialistisch orientierten Welt als unvermeidlich gelten.

Mit dem Ende des Kalten Krieges hat sich das nationale und internationale Interesse aus dem politischen, ideologischen Bereich in Richtung Wirtschaft und Handel verschoben. Dabei bleibt jedoch die Frage offen, ob nicht die Politik der „Neuen Weltordnung“ entscheidend oder sogar ausschließlich von ökonomischen Überlegungen geprägt wird, die von Völkern und Nationen als eine Ära des Fortschritts und der Harmonie herbeigesehnt wird. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts zeigt es sich immer deutlicher, daß der materialistische Zollstock nicht als einziger Maßstab für menschliches Wohlergehen dienen kann. Unter Berücksichtigung psychologischer Implikationen muß das Basisverständnis zum Beispiel von Armut neu überdacht werden.

Warum fühlen sich Menschen arm? Ein solches „modernes“ Verständnis von Armut ist für Birmesen nichts Neues, denn mit dem Begriff hsinye, läßt sich nicht nur ein Mangel an materiellen Gütern beschreiben, sondern auch physisches Unwohlsein und mentale Bedrängnis. (...) Das birmesische Sprichwort: „Nur mit einem vollen Magen kann die Moral (sila) aufrechterhalten werden“, ist unsere Version der weit verbreiteten Ansicht, die an das berühmte Brecht- Zitat erinnert: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ (...)

Der Buddhismus bezeichnet in der Erforschung der Formen menschlichen Leidens die Gier und Lust – also die Leidenschaft, sich einem zügellosen Verlangen hinzugeben – als erste von zehn Unreinheiten, die einem ruhigen, zufriedenen Geisteszustand im Wege stehen. Andererseits wird sehr viel Wert auf Freimut und Großzügigkeit gelegt. (...) Freundlichkeit, Mitleid, Sympathie und Gleichmut verstehen Buddhisten als „göttliche“ Charaktereigenschaften, die Not lindern helfen und Glück unter allen Lebewesen verbreiten. Das größte Hindernis für diese edlen Empfindungen ist nicht so sehr Haß oder Wut als vielmehr ein verbissener Geisteszustand, ein auf engstirnigen Egoismus ausgerichtetes Dasein.

Im Akt des freiwilligen Abgebens von den eigenen, beschränkten Vorräten zum Wohle anderer zeigt sich die Einsicht, daß individuelles Glück eine breitere Basis braucht als die Befriedigung eigennütziger Gelüste. Von hier aus ist es kein weiter Schritt mehr zu der Erkenntnis, daß der Respekt vor den Empfindlichkeiten und Rechten anderer genauso wichtig ist wie die Verteidigung der eigenen Interessen und Rechte, wenn es darum geht, eine zivilisierte Gesellschaft aufrechtzuerhalten.

Aung San Suu Kyi Foto: Reuter

Es wäre naiv zu glauben, daß alle Menschen dem Dienst für andere den Vorrang einräumen vor dem Dienst an der eigenen Person. Allerdings hätten zum Beispiel Regierungen sehr wohl die Möglichkeit, mit mehr Nachdruck die Mehrheit der Weltbevölkerung darüber aufzuklären, daß sich Eigennutz (sei es als Individuum, Kommune oder Nation) nicht von den Interessen anderer trennen läßt.

Sollte nicht – statt materiellen Fortschritt als Voraussetzung für die Verbesserung sozialer, politischer und ethnischer Verhältnisse zu proklamieren – viel mehr über eine aktive Förderung angemessener, sozialer, politischer und ethischer Werte nachgedacht werden? Dabei ginge es nicht allein um eine Untermauerung des materiellen Fortschritts, sondern auch darum, sicherzustellen, daß Hilfsgüter überlegt und klug verteilt werden. (...)

Ein engstirniger Materialismus, der alle Überlegungen jenseits des eigenen Wohlbefindens ignoriert, läuft Gefahr, am Ende das Wichtigste überhaupt zu ignorieren. (...) Viele Menschen in den „neuen“ Demokratien sind in ihren Erwartungen auf sofortige Verbesserung ihrer Lebenssituation enttäuscht worden. In ihrer Frustration haben sie altmodische und obskure Verschwörungstheorien wieder aufleben lassen, die ein günstiger Nährboden für Vorurteile, Paranoia und Gewalt sind.

Die Suche nach Sündenböcken ist vor allem die Ablehnung jeglicher Verantwortung: Sie zeigt die Unfähigkeit, aufrichtig und intelligent nach der wahren Natur von Problemen zu suchen, die ihre Wurzeln in sozialen und ökonomischen Schwierigkeiten haben. Die Beurteilung von Errungenschaften nach vorwiegend materiellen Gesichtspunkten impliziert einen begrenzten und begrenzenden Blick auf die menschliche Gesellschaft. Sie verleugnet Qualitäten des Zusammenlebens, die mehr sind als ein Konglomerat egoistischer Verbraucher-Gemeinschaften, die wenig mehr als einen prähistorischen Überlebenssinn entwickelt haben.

Es ist völlig natürlich, daß alle Menschen den Wunsch nach einer sicheren Zufluchtsstätte verspüren. Unglücklicherweise jedoch verhalten sich viele – obwohl längst schlagende Gegenbeweise erbracht worden sind – als sei ihre Sicherheit garantiert, wenn sie sich in einer Festung des Reichtums verbarrikadieren. Heute geht die größte Gefahr einer globalen Sicherheit nicht mehr von den ökonomischen Unzulänglichkeiten der ärmsten Nationen aus, sondern von den religiösen, ethnischen oder politischen Konflikten. (...)

Die „Dritte“ genauso wie die „Erste“ Welt leidet an den Folgen des Verschwindens eines Wertesystems, das zumindest einen Minimalstandard von Recht und Toleranz kannte. (...) Aber Frieden, Stabilität und Einheit können weder erkauft noch erzwungen werden, vielmehr müssen sie genährt werden durch die Förderung eines Gefühls für menschliche Bedürfnisse und den Respekt für die Rechte und Meinungen anderer.

Nicht Verschiedenartigkeit und abweichende Meinungen verhindern die Entwicklung starker, stabiler Staaten: Es sind Inflexibilität, Engstirnigkeit und ungebrochener Materialismus, die dem Wachsen einer Nation im Wege stehen. Und wenn sich gewisse Eigenarten so sehr verhärten, daß jede Andersartigkeit ein ausreichender Grund ist, die andere Person nicht mehr als menschliches Wesen zu behandeln, schnappen die Fallen der modernen Zivilisation mit beängstigendem Tempo zu. (...)

Wer jemals mit Flüchtlingen gearbeitet hat, weiß am besten, daß Menschen, die aller Reichtümer beraubt sind, nur noch über einen Besitz verfügen – ihr kulturelles und geistiges Erbe. Die Tradition des Teilens, die auf jahrhundertealte Überzeugung von der Freude am Geben und der Heiligkeit des Mitleids aufbaut, wird den Obdachlosen dazu bringen, mit der Eleganz und Anmut eines Reichen einen Teil seiner mageren Essensportion an einen Fremden abzugeben. Auf der anderen Seite werden Menschen, deren räuberische Eigenschaften in der Kultur eines gnadenlosen Egoismus perfektioniert worden sind, die kleinste Habseligkeit ihrer Leidensgenossen stehlen. Nun, die Mehrheit der Flüchtlinge dieser Welt sucht Zuflucht vor Lebensumständen und Situationen, die sich durch völlige Abwesenheit von Humanität und Weisheit auszeichnen.

Der Traum einer Gesellschaft, die von liebenswürdiger Freundlichkeit, Vernunft und Gerechtigkeit regiert wird, ist so alt wie der zivilisierte Mensch. Muß es ein unmöglicher Traum sein? (...) Es ist wahr, daß selbst das kleinste Licht von der größten Dunkelheit nicht ausgelöscht werden kann, denn die Dunkelheit ist vollständig negativ. Sie ist nur die Abwesenheit von Licht. Aber ein kleines Licht kann nicht sehr weit scheinen. Es muß stärker werden, um seine Helligkeit weiter und weiter ausbreiten zu können. Und die Menschen müssen ihre Augen daran gewöhnen, das Licht eher als Wohltat denn als Schmerz zu sehen, sie müssen es lieben lernen. Was wir brauchen, ist eine hellere Welt, die eine angemessene Zuflucht für all ihre Bewohner bietet. Übersetzung: Dorothee Wenner