Leute immer schwerer krank

■ Psychoanalytiker: zunehmend komplexe Störungen / Fachverband gegen Seehofer-Reform

Die Menschen sind heutzutage psychisch schwerer und auswegloser krank als früher. Mit jedem Arbeitstreffen kommen die Psychoanalytiker mehr zu diesem Schluß. „Früher waren es eher isolierte Symptome, wie die berühmte Angst, Fahrstuhl zu fahren“, beschreibt Gabriele Junkers, Vorsitzende der Bremer Regionalgruppe der „Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung“ (DPV), diese Entwicklung. Heute seien es zunehmend Störungen der Persönlichkeit, die nicht auf ein Symptom beschränkt sind. Angst, Unsicherheit, Depression, Apathie und Passivität seien die Gefühle, die die psychischen Krankheitsbilder bestimmen.

Und obwohl die Psychoanalyse eine der wenigen Therapien ist, die in der Behandlung von psychischen Krankheiten kassenärztlich überhaupt nur abgerechnet werden kann, greift die Seehofersche Strukturpolitik auch hier ein: Sie begrenzt die wöchentliche Behandlungsfrequenz. Maximal drei Wochenstunden sollen künftig bei KassenpatientInnen erlaubt sein — unabhängig vom Krankheitsbild. „Ein Eingriff in die ärztliche Indikation“, finden die Analytiker.

Vor allem diese berufspolitischen Sorgen trieben rund zwei Drittel der insgesamt 700 DPV- Mitglieder aus der gesamten Bundesrepublik dann auch zur Arbeitstagung nach Bremen. Sie wollen die Psychoanalyse als kassenärztliche Therapieform erhalten wissen. Die klassische Analyse (in der Tradition Sigmund Freuds) ist zeitintensiv. Nach Ansicht der Analytiker lassen sich behandlungsbedürftige Störungen, die auf's engste mit zwischenmenschlichen Beziehungen verknüpft sind, nur in der Interaktion aufdecken und aufbrechen: in dem Moment, in dem sie im Behandlungsgespräch sichtbar werden. Deren bloß rationale Besprechung (wie in der Gesprächs-oder Gestalttherapie) könne jedoch nicht die Persönlichkeitsstruktur verändern. Dies könne nur leisten, was das Gefühlsleben wirklich erreicht. Um die Krankheit zu behandeln, müsse die Persönlichkeitsstruktur also erreicht werden. „Das aber ist zeitintensiv“, so Gabriele Junkers. Sie selbst hat in ihren bald 20 Berufsjahren zahlreiche Arbeitslose und SozialhilfeempfängerInnen behandelt, die aufgrund tiefliegender Störungen nicht in den Arbeitsprozeß zurückkamen, aus dem sie herausgefallen waren. Erst die Analyse habe herausgefunden, daß in diesen Fällen eine Verquickung von psychischer Krankheit und einem gesellschaftlichen Problem (Arbeitslosigkeit) vorlag. „Diesen Menschen ist ein Zugriff auf Analyse als Behandlung nicht mehr möglich“, konstatiert die Psychoanalytikerin. ra