Die einzje Energie

Strategien für würdevolles Altern nicht mehr ganz hager gebliebener Herren: Die Einstürzenden Neubauten schlugen sich im Tempodrom durch die Zeiten  ■ Von Claudia Wahjudi

Der Untergang wurde ihm, und nur ihm allein, bereits 1985 weisgesagt. Doch als Blixa Bargeld am Samstag abend unvermittelt ins Bühnenlicht tauchte, präsentierte sich der „traurige Zappelphilipp“ den Prophezeiungen des Zeit- Feuilletons zum Trotz als Stratege, der sein Karrierekonzept im Griff hat.

Während des knapp anderthalbstündigen Konzerts der Einstürzenden Neubauten bleibt nichts dem Zufall überlassen: Bargeld agiert meist sparsam, ganz Herr der Menge – im schwarzen Anzug, wie von Nick Cave geborgt, die Hosenbeine knöcheleng über den blankgeputzten Schuhen. Chung in weißem Hemd und Schlips und F. M. Einheit mit seitenrasiertem Kurzhaarschnitt ergänzen das konservative Statement. Im nahezu ausverkauften Tempodrom bekennen sich die Neubauten, 1980 gegründet, haarscharf an den aktuellen Trends vorbei zum vergangenen Jahrzehnt, und das an einem Abend, an dem hager gebliebene Männer wieder Lederjacken trugen und ihre Augen kajalschwarz umrandet hatten.

Yref, Gitarrenaggressor mit Phonstärke bis zum Brandenburger Tor, und Miranda Sex Garden hatten das bedingungslose Einvernehmen mit den Zuschauern vorbereitet. In der Dramaturgie der Neubauten offenbart es sich aber schnell als Produkt eines zweischneidigen Kalküls. Immerhin hatten sich die Neubauten 1990 mit dem „Haus der Lüge“ von der Trümmerästhetik des versunkenen West-Berlins verabschieden wollen. Noch einmal waren die Gesänge steinewerfender Straßenkämpfer zu hören gewesen, gleichzeitig wähnten sich die fünf, „zigtausendfach unters Volk gebracht“, schon auf dem „Stuhl im Himmel“.

Nach dreijähriger Pause folgt „Tabula Rasa“, das neue Album, nun dem Plan, mit einem über Berlin hinaus verständlichen Sinn für Formen endgültig auf dem Parkett internationaler Kulturattachés mittanzen zu können, inklusive Rekurs auf die Renaissance und Müllerschem Sprachduktus, der exportberechtigte, teutonische Qualität vorgibt. Zumindest als Altersvorsorge schien diese Strategie größere Sicherheit und höhere Würden zu versprechen als die Versuche alternder Rockstars, auf ewig als junge Rebellen anerkannt zu bleiben.

Für die Präsentation von „Tabula Rasa“ ist diesmal der mittlere Teil des dreiaktigen Konzerts reserviert. Trotz epischer Länge verfliegt der Zorn des „Headcleaners“, der die „weltverbesserwisserischen ideen“ der Joan-Baez-Generation aufs Gräberfeld verbannt, jedoch im Nu. Schließlich ist der exponierte Platz nur ein gekonnt getrickstes Alibi: Bei einem Berliner Heimspiel darf nicht die Sorge um die Zukunft im Mittelpunkt stehen, die Erinnerung muß den Ton angeben.

Schon am Ende des kurzen ersten Akts, den er ausgerechnet mit dem feuchtschwülstigen Liebeslied „Zebulon“ eröffnet hatte, war Bargeld zugleich zu Boden und in seinen minutenlangen Schrei aus der Zeit des „Patienten O.T.“ gestürzt – das Versprechen, in die Vergangenheit zurückzukehren. „Tabula Rasa“ dient darum nur als spannungssteigernde Warteschleife. Tatsächlich folgt nach einem voreiligen Ende, was folgen muß: Die Zugabe gerät zu einer Hommage an den Beginn der Achtziger.

Und das ist gut so: Obwohl in ihrer Wirkung offensichtlich streng berechnet, lassen Länge und Intensität des Schlußaktes alles andere vergessen. Eine knappe halbe Stunde lang erinnern die Neubauten an ihr schon fast vergessenes Credo, daß Sehnsucht aus dem Chaos kommt und „die einzje Energie“ ist.

Da waren sie wieder, die Käfer, die über Arme und Wände krabbeln, das messerwunde Fleisch, das kreischende „Schaben“ von Metall und der Wahnsinn, in dem die einzig relevanten Fragen gestellt werden, bis zum Abschieds-„Kuß“, mit dem die Neubauten postulierten, daß das, was sie einst warfen, doch Funken geschlagen hat. Eine weitere Zugabe verbat sich somit von selbst.