Von Kopflastigkeit keine Spur

Serie Umland-Utopien: Auf Schloß Zeesen haben die Besetzer trotz Skin-Terrors das zerstörte Gebäude gerettet und einen öffentlichen Raum mit vielen Angeboten geschaffen / Im Garten steht ein U-Boot / Gründgens-Erben melden Ansprüche an  ■ Von Gerd Nowakowski

Stille liegt um elf Uhr morgens noch über dem Gelände. Die kurze, baumbestandene Auffahrt, die schnurgerade auf das Schloß zuführt, unterstreicht den herrschaftlichen Charakter des Baus. Das einzig Lebendige sind die Hunde, die sich in der Vormittagssonne auf der imposanten Freitreppe wärmen und den Besucher nur träge aus einem Auge anblinzeln. Schön ist es, fast unanständig schön. Hinterm Schloß glänzt der See wie frischgeputzt. Kleine Wellen murmeln leise ans Ufer.

Alles schläft, ganz allein sitzt Horst in der großen Küche. Der Siebenundzwanzigjährige mit den kurzen roten Haaren ist Vorsitzender des „Vereins zur Förderung unbekannter Musiker“, was merkwürdigerweise zu „Splirtz“ abgekürzt wird. Schloß Zeesen und die Leute, die dort wohnen, das ist Splirtz.

Die langgestreckte Küche im Erdgeschoß wird beherrscht von einer riesigen, kohlegefeuerten Kochmaschine – „extrem billig abgestaubt“, merkt Horst an – und einem großen Tisch. Der ist noch ziemlich neu – selbstgebaut, na klar. Wie alles hier, wird der Besucher noch merken. Anfänglich stand hier der legendäre Tisch der Kommune 1. Jener Tisch, der auch zwölf Jahre lang den Konferenzraum der taz schmückte, bis er plötzlich verschwand – weil die taz nach Meinung der Entführer die Ideale der „Bewegung“ verraten hatte. Aber auch den Zeesenern ist der autonome Wanderpreis wieder geklaut worden – von Potsdamer Besetzern, die den Tisch später verbrannten. Was Horst schwer bedauert.

Vor fast zwei Jahren haben sie auf der Suche nach geeigneten Übungsräumen für Musiker in der Nähe von Königs Wusterhausen das seit der Wende leerstehende und weitgehend verheerte Schloß entdeckt. Die Besetzung erfolgte dann sozusagen im Handstreich. Bis zu diesem Zeitpunkt nämlich war das Gebäude Treffpunkt der örtlichen Skins. Monatelang mußten sich danach die Besetzer – mit viel Hilfe von Berliner Antifas – der Überfälle der Skins erwehren. Nachtwachen wurden geschoben, das Gelände beleuchtet, Nato- Draht ausgelegt. Bei einem Überfall schossen die Neonazis gar einem holländischen Gast mit einer Kalaschnikow in den Arm. Das ist vorbei: Zwischenzeitlich sind einige der Skins wegen anderer Straftaten verurteilt worden. Heute künden von der Zeit der Belagerung nur noch die mit Blechgittern gesicherten Fenster.

Zwanzig Erwachsene leben jetzt ständig hier – entweder im Haus oder in umgebauten Last- oder Zirkuswagen, die als kleine Wagenburg neben dem Schloß stehen. Fast alle kommen aus Westberlin, nur zwei sind aus der ehemaligen DDR. Viele kennen sich seit langen Jahren, haben bereits in Westberlin zusammen Häuser besetzt. Der Älteste ist ein Altfreak in den Fünfzigern, die meisten sind um die dreißig. Drei Kinder sind auch dabei. Eines davon ist in Zeesen geboren; ein anderes ist kürzlich dort eingeschult worden. Ein Mitbewohner hat gerade eine Kfz- Mechaniker-Lehre im Ort begonnen. Auch das gehört wohl zu den kleinen Dingen, die ihnen die Sympathie der Bewohner von Zeesen eingebracht haben: Sie zeigen, daß sie es ernst meinen mit dem gemeinsamen Leben und nicht nur zu Besuch da sind. Anerkennend spricht selbst der Taxifahrer davon, daß die Besetzer „da richtig aufgeräumt hätten“. Dabei ist immer noch zu spüren, wie fremd ihm anfänglich dieser Haufen von Menschen gewesen sein muß.

Geholfen hat den Besetzern wohl vor allem ihre zupackende Art. Ohne dieses Kapital hätten sie aber auch längst aufgegeben. Keine Spur von Kopflastigkeit. Im selben Maße, wie sich die Küche füllt und Horst in Fahrt gerät, wird immer deutlicher, daß hier die Späne fliegen, wenn erst einmal die Ärmel hochgekrempelt sind. Die Palette der Talente und Fertigkeiten ist beeindruckend. Der geborene Spandauer Horst ist gelernter Fleischer, gelernter Dachdecker und hat auch eine Ausbildung als Kunststoffkarosseriebauer vorzuweisen. Eine gelernte Bäckerin gibt es, eine Tischlerin und einen Maler. Otto ist Automechaniker, Peter gelernter Schuhmacher, Konrad Harfenbauer, und Achim war zuletzt Art Director bei einer Werbeagentur. Selbst einen gelernten Glaser haben sie im Haus. Der hatte anfangs viel Arbeit: Alle Fenster mußten erneuert werden. Auch die marode Zentralheizung wurde überholt und wieder neu in Schwung gebracht, die zerstörte Elektrik erneuert und die Wände verputzt.

Eine private Idylle schwebte ihnen allerdings niemals vor. Die Besetzer, die das gemeinsame Musikmachen verbindet, zielten von Beginn an auf den öffentlichen Raum. Sie veranstalten im Schloß Seminare und seit Anfang Mai wieder an jedem Wochenende Konzerte. Selbst Bands aus den USA und aus Spanien haben schon in Zeesen gespielt, erzählt Horst und zeigt stolz das T-Shirt mit dem aufgedruckten Tourplan einer Band: Zeesen steht da gleich neben London.

Das Erdgeschoß des Schlosses mit einem Veranstaltungsraum und dem Billardzimmer ist öffentliches Gelände. Gegen Mittag trudeln immer mehr Kinder und Jugendliche aus dem Ort ein. Für die Kids aus der Umgebung bieten die Bewohner Mal- und Musikkurse an. In einer anderen Gruppe werden Mopeds zusammengeschraubt. Und einen Selbstverteidigungskurs für Frauen gibt es auch. In den Schulen der Umgebung sei das Schloß inzwischen fester Bestandteil der Projekttage, erzählen sie.

„Wir erfüllen locker die Funktion eines Jugendheims, ohne daß dies den Staat einen Pfennig kostet“, nuschelt der langhaarige Reinhard, der von Zahnschmerzen genervt wird. Die Eltern seien froh, daß ihre Kinder nicht auf der Straße rumhängen, sondern was Sinnvolles machten, fügt Horst hinzu: „Die wissen, hier gibt es keinen harten Alk und keine Drogen.“ Auch dieses Freizeitangebot habe ihnen die Unterstützung und Sympathie der Verantwortlichen des Kreises und des Ortes eingebracht. „Das macht uns stark, daß einige Leute knallhart zu uns stehen“, sagt Horst nachdrücklich.

Selbermachen; ausprobieren, wie man sinnvolle Gerätschaften mit geringsten Mittel schaffen kann, scheint die Devise zu sein. Was andere weggeworfen haben, findet hier eine neue Bestimmung. Die beste DDR-Tradition, das Improvisieren mit einfachsten Mitteln, wird hier fortgesetzt – etwa in der Autowerkstatt, wo gerade ein alter Bus umgebaut wird.

Das Panorama hinterm Schloß macht neidisch. Weit geht der Blick über den See mit seinen grün umsäumten Ufern. Am neuerbauten Steg liegt ein Ruderboot. Einen heruntergekommenen Holzkahn hat die Truppe wieder zu einem schmucken Segelboot aufgebaut. Im Garten liegt ein weiteres Bastelobjekt: Der Torso eines U-Boots soll bald schwimmen.

Auch bei der Fleischversorgung ist die Gruppe inzwischen autark. Über die Schulter weist Horst auf eine bei der Volksarmee abgestaubte Gulaschkanone: „Da drin wird die Wurst gekocht.“ Er inspiziert die Schweinezucht und gerät über die 16 Ferkel ins Schwärmen: eine Kreuzung aus der amerikanischen Zwergsattelsau und dem vietnamesischen Hängebauchschwein. Nur der Eber, ein ehemaliges Zirkustier, hat den Winter leider nicht überlebt: Er ist im Eis eingebrochen.

Das Brot backen sie ebenfalls selbst, und der große Gemüsegarten steht gut im Halm.

Alles Paletti also – wenn da nicht die leidige Eigentumsfrage wäre, die drohend über dem Projekt schwebt. Für Peter ist die Situation paradox: „Wir haben doch durch unsere Arbeit den Zerfall verhindert“ – damit nun die Altbesitzer davon profitieren.

Rückübertragungsansprüche hat der Bankier Goldschmidt geltend gemacht, den die Nazis als Juden einst enteigneten. Mit ihm können sich die Besetzer durchaus vorstellen, zu einer einvernehmlichen Lösung für eine weitere Nutzung zu kommen. Der inzwischen fast neunzigjährige Bankier nämlich sei auch als Kunstmäzen bekannt. Mehr graust ihnen da vor den Gründgens-Erben, die das Schloß mit den fast achttausend Quadratmetern ebenfalls beanspruchen und zum Hotel umbauen lassen wollen.

Noch ist bei der Rückgabe keine Entscheidung gefallen. Daß auch im Kreis wegen der sozialen Angebote im Schloß kein Interesse an einer Rückgabe besteht, sind sich die Besetzer sicher. Zumindest bis zum Frühjahr nächsten Jahres, so wurde ihnen versichert, dürften sie im Schloß bleiben. „Wenn es dann keine Alternative für uns gibt, wird das eine knallharte Besetzung“, stellt Horst klar: „Leise und freiwillig gehen wir nicht weg.“

Die nächste Folge der Serie erscheint am Samstag.