Die Chinesen kommen

■ Die westlichen Majors können einpacken: Das Ereignis in Cannes waren die Filme aus den chinesischen Republiken

Sie kommen durch den Bühneneingang. Der König und seine Geliebte, prächtig gekleidet, maskiert und geschminkt: Auftritt der Stars aus der Pekingoper. Sie stehen im Stadion mit mehreren tausend Plätzen, auf einer riesigen Spielfläche, allein. Es gibt kein Publikum. Nur ein Reinigungsmann wird auf die beiden aufmerksam und herrscht sie an: „Wer seid ihr?“ Dann entschuldigt er sich: „Ich hätte euch gar nicht erkannt.“ 21 Jahre lang durften der König und die Konkubine nicht auftreten, bis zum Ende der Kulturrevolution. China 1976: „Heute ist alles besser“, sagt der König. Aber es klingt skeptisch.

Wer seid ihr? Eine Frage an zwei verkleidete Männer, gestellt in einer leeren Halle. So beginnt „Adieu, meine Konkubine“ von Chen Kaige: mit einer Tabula rasa. Und dann explodieren die Farben auf der Leinwand, das Rot der Pekingoper und das Blau der Maoisten, Straßenszenen wechseln mit Opernbildern, Massenkundgebungen mit Melodram, folgen Feuer und Folter, Gewalt und Leidenschaft, zweieinhalb Stunden lang: großes Kino. Ein Epos über die Pekingoper von 1924 bis '66, eine Liebestragödie zwischen einem Mann, einem Homosexuellen und einer Frau, ein Drama über den politischen und persönlichen Verrat, eine Burleske über die Verwechslung von Theater und Wirklichkeit, ein Pamphlet gegen eine Politik, die das Volk, in dessen Namen sie verübt wird, in ihre Dienste zwingt, und ein Versuch über die Kunst, die auf den Strich geht.

„Man muß singen“, lehrt der Meister die beiden Pekingoper- Eleven und prügelt sie in ihre Rollen. Und Dieyi und Xiaolou singen, ihr Leben lang: für die Warlords der zwanziger Jahre, für die Kuomintang-Regierung, für die Japaner, für Kommunisten und Konterrevolutionäre. Die Kunst, erzählt dieser Film, ist eine Hure. Als Schüler wurden Dieyi und Xiaolou ihrer Identität beraubt und in den Dienst der Oper gezwungen. Jetzt sind sie Stars, und für Geld besorgen sie's jedem. Der sensible Dieyi zerbricht daran. Chen Kaige meint das durchaus selbstkritisch. Auf der Pressekonferenz formulierte er, mit der stoischen Miene eines Politfunktionärs, erschütternde Sätze: „Der Hauptgrund, warum Chinas Geschichte eine Tragödie ist, liegt darin, daß jeder von uns von der Furcht beherrscht ist, aus dem Kollektiv, aus der Masse ausgeschlossen zu werden. Deshalb möchte jeder seine Loyalität gegenüber dem System unter Beweis stellen. Aber um dies tun zu können, muß man andere verraten.“ Und fügt hinzu, er habe während der Kulturrevolution seinen eigenen Vater verraten.

Chen gehört zu den Filmemachern der sogenannten 5. Generation. Aus der gleichen Filmklasse stammen Zhang Yimou und Tian Zhangzhuang. Alle drei haben die Umerziehung und Landverschickung erlebt, alle drei arbeiten bis heute unter den Bedingungen der Zensur. Und alle drei haben jetzt Filme gedreht, die die Wirklichkeit Chinas zeigen. Zhang Yimous „Geschichte der Qiuju“, Chen Kaiges „Konkubine“ und Tian Zhangzhuangs „Der blaue Drachen“, der ebenfalls in Cannes zu sehen war: chinesische Gegenwart, Chroniken des 20. Jahrhunderts, Tabubrüche. Es drängt sie, zu erzählen. Auch Hou Hsiao Hsiens neuer Film „Der Puppenspieler“, in Cannes ebenfalls im Wettbewerb, ist eine Chronik der japanischen Besetzung des Landes bis 1945, zweiter Teil von Hous Taiwan-Trilogie, der dritte soll in der Gegenwart spielen. Tian Zhangzhuangs Geschichte einer Kindheit im Peking der 50er und 60er Jahre versammelt gleich mehrere verbotene Themen: Die Anti- Rechts-Kampagne nach der Ära des „Laßt hundert Blumen blühen“, den Großen Sprung mit seiner sinnlosen Stahlproduktion, die Hungerjahre von 59' bis '61, die Anfänge der Kulturrevolution. Morde, Schauprozesse, Arbeitslager. Eine hübsche Soldatin wird in der Armee zur Prostitution gezwungen: Es ist das erste Mal, daß ein Film diese damals übliche Praxis immerhin andeutet. Während der Dreharbeiten gingen bei der Parteizentrale und beim Filmministerium zahlreiche anonyme Drohbriefe ein, Tians Film mußte in Japan fertiggestellt werden; wegen des „Blauen Drachens“ verzögerte sich auch die Drehgenehmigung für Chen Kaiges „Konkubine“. Dessen Held Dieyi wird zur Zeit der Viererbande wegen seiner homosexuellen Neigungen verfolgt: auch ein Tabuthema. Viele Schauspieler lehnten es ab, diese Rolle zu spielen, da es ihrem Ruf schade.

Dem Drang zum Erzählen der eigenen Geschichte entspricht das Bemühen um exportfähige Großproduktionen. „Adieu, meine Konkubine“ adaptiert Lilian Lees gleichnamigen Bestseller-Roman aus Hongkong, wurde, ähnlich wie Yimous „Rote Laterne“, mit Geldern aus Taiwan und Hongkong in China produziert und versammelt erstmals in einem Major-Film Stars aus allen drei chinesischen Ländern: Leslie Cheung (als Dieyi), der bekannteste Popsänger und Fernsehstar Hongkongs, Zhang Fengyhi (Xiaolou), einer der bekanntesten Schauspieler der 5. Generation, und Gong Li, Heldin aller Zhang-Yimou-Filme, in der weiblichen Hauptrolle. Und die taiwanische Produzentin Hsu Feng kennt man in Hongkong als ehemaligen Kung-Fu-Star. Man stelle sich vor: Madonna produziert einen Film mit Michael Jackson und Emma Thompson.

Noch ist Kaiges Film in Taiwan verboten, da die Volksrepublik dort weitgehend boykottiert wird; andererseits hat Hou Hsiao Hsien etliche Yimou-Filme produziert: die Zensur der drei Länder untereinander wird durch eine ausgeklügelte Joint-venture-Praxis seit Jahren unterlaufen. Allein sechs taiwanische Filme fanden sich im diesjährigen Cannes-Calender, die mächtige japanische Filmproduktion ERA investiert regelmäßig in Taiwan und der Volksrepublik, Hongkongs Filmindustrie boomt ohnehin. Bei jährlich über 100 Produktionen ist Hongkong nach den USA und Indien weltweit das einzige Land, in dem alle zehn Box- Office-Hits aus dem eigenen Land stammen: Schwertkämpfer-Filme, Thriller, Komödien und Genrefilme, die wie etwa Tsui Harks „Once upon in China“-Trilogie auch international Kasse machen. Das Geheimnis des Erfolgs: Ähnlich wie im Hollywood-Kino gibt es keinen Unterschied zwischen Kunst und Kommerz. Wenn es den Filmemachern nun gelingt, mit Hilfe dieses Rezepts und bei einer nachlassenden Zensur der Gegenwart, dem Alltag und der Zeitgeschichte auf den Leib zu rücken, können die westlichen Majors, ohnehin in der Krise, einpacken. Hou Hsiao Hsien prognostiziert: „China wird ein Zentrum für die Filmindustrie. Es wird ein Phänomen sein wie Hollywood. Es ist ein großer Markt, allein, was die Bevölkerungszahlen betrifft.“

Als nächstes will Chen Kaige die Lebensgeschichte von Maos Ehefrau Jang Qiung auf die Leinwand bringen, das Drehbuch schreibt wieder die Bestsellerautorin Lilian Lee. Ob auch die Geschichte vom Platz des Himmlischen Friedens je im chinesischen Kino erzählt werden kann, ist allerdings vorerst nicht abzusehen. Christiane Peitz