Ermittler Falcone rächt sich aus dem Grab

Ein Jahr nach dem Attentat sitzen alle wichtigen alten „Cupola“-Mitglieder im Gefängnis / Verdacht richtet sich auch gegen den Geheimdienst / Mafia-Führung neu organisiert  ■ Aus Palermo Werner Raith

„Das einzige, was wir ganz sicher wissen“, resümiert ein Beamter der neuen Anti-Mafia-Polizei „Dipartimento investigativo Antimafia“ (DIA), „ist, daß die hochgejubelte pista tedesca – die deutsche Spur– in die Wüste geführt hat.“ Trotz aufmerksamkeitshaschenden Spiegel-Titels und zahlreicher Fernsehsendungen gleich nach den Morden an Giovanni Falcone am 23.Mai 1992 und an seinem Kollegen Paolo Borsellino einen Monat später (mit ihnen starben acht Leibwächter und die Frau Falcones) haben sich die Mutmaßungen über in Deutschland „geparkte“ und für die Anschläge eingeflogene Spezialisten der Mafia als Schlag ins Wasser erwiesen.

Die „deutsche Spur“ war vor allem deshalb hoch gehandelt worden, weil im Jahr zuvor die Mörder eines anderen Ermittlungsrichters, Livantino, tatsächlich aus Deutschland gekommen und dorthin zurückgekehrt waren – doch genau das hat Mafia-Experten von vornherein skeptisch werden lassen: Auch für die Anschlagplaner war ja voraussehbar, daß man nun jenseits des Brenners besonders intensiv nachgucken werde. Und seit dem schnellen und entschlossenen Zugriff auf die Livantino-Killer gilt Killern wie Bossen aus Sizilien die deutsche Polizei – trotz fortschreitender Überwältigung durch Wellen organisierter Kriminalität– als zu effizient, um sich auf Scharmützel mit ihr einzulassen.

Doch auch andere Fährten führten nicht viel weiter. Aus den USA waren zwar sofort Sprengstoff- und Elektronik-Experten angereist und hatten innerhalb weniger Tage herausgefunden, wie die Explosivladungen angebracht, von wo aus das Kommando gegeben wurde und daß der Mensch am Auslöser viele Zigaretten geraucht hat. Doch dann war auch da Schluß.

So verlaufen die Ermittlungen bisher eher auf logischen denn auf indiziengestützten Bahnen: Kein einzelner Mafioso und auch kein einzelner Clan darf sich herausnehmen, ein derart hoch zielendes Delikt ohne Absprache mit allen anderen „Familien“ und vor allem ohne Absegnung durch das Leitorgan „Cupola“ (Kuppel) zu begehen. Die danach erfolgten massiven Polizeieinsätze (in diesem Falle wurden auch noch 7.000 Soldaten zusätzlich auf die Insel entsandt) stören die Geschäfte aller, und auch den nichtbeteiligten Bossen muß Gelegenheit gegeben werden, sich rechtzeitig haltbare Alibis für die Tatzeit zu verschaffen. Insofern inkriminierten die Ermittler bisher vor allem zwei Personengruppen: die für die Anschläge territorial zuständigen „Familien“ – die stets ihr Plazet geben müssen, wenn Spektakuläres auf „ihrem Gebiet“ geschieht– und die Mitglieder der „Kuppel“, nach aktuellem Stand fünf bis sieben Männer aus den verschiedenen Provinzen der Insel.

Längst hat sich allerdings auch mancher Zweifel in die rein mafiose Interpretation der Anschläge gemischt, speziell, was den Fall Falcone angeht. Nicht nur, daß er am Mordtag mit einem Geheimdienstjet nach Palermo geflogen kam und inzwischen zumindest ein Telefonat aus einem Geheimdienst-Büro nach Palermo bewiesen ist, das gegen alle Order Falcones Ankunft ankündigte: Mafia- Aussteiger berichten, das Attentat wäre verhinderbar gewesen, wenn ein von einem Konfidenten informierter Geheimdienstler entsprechende Hinweise genutzt hätte.

Auch die Präzision des Attentats und die verwendeten Materialien weisen auf ein so hohes Expertenniveau, daß mafiose Erfahrung alleine kaum ausreicht. Dazu kommt, daß Falcone in seiner letzten Tätigkeit als Abteilungsleiter für Strafrecht im Justizministerium offenbar ein neues Terrain betreten hat, das weit über die Mafia hinausweist: die Zusammenarbeit der „ehrenwerten Gesellschaft“ mit anderen Dunkelmännerzirkeln, von – eben – Geheimdiensten bis zu Geheimlogen und auch zu weltweit operierenden legalen Konzernen. So war z.B. das Ende 1991 vom italienischen Finanzministerium erlassene einmonatige Verkaufsverbot für Produkte des Philip-Morris-Tabakkonzerns (unter anderem „Merit“ und „Marlboro“) vor allem die Frucht von Erkenntnissen Falcones: Von Mafia-Aussteigern und Camorra- Überläufern hatte der Ermittler erfahren, daß einige Tabakkonzerne offenbar den Zigarettenschmuggel in eigene Hände genommen und dabei mit kaum weniger kriminellen Methoden die Unterwelt-Konkurrenten ausgeschaltet haben. Glaubt man dem Ex-Boß Antonino Calderone, so schreckten die Konzern-Dunkelmänner nicht einmal davor zurück, Killer anzuheuern, wenn die vordem mit dem Schmuggel-Monopol ausgestatteten neapolitanischen Camorristen aufmuckten oder nicht spurten.

Doch auch ohne konkrete Erfolge in der Ermittlung über die Mordfälle Falcone und Borsellino hat sich inzwischen eine vorher unabsehbare Entwicklung ergeben: Faktisch alle Feinde der beiden, vor allem die gesamte bisherige Mafia-Leitung, sitzen mittlerweile im Gefängnis. Nach der Festnahme der Nummer 3, Giuseppe Madonia, Ende vergangenen Jahres, und des allgemein als unumschränktes Oberhaupt aller Clans eingeschätzten Toto Riina im Januar erwischte die Polizei Anfang vergangener Woche auch noch den Riina-Nachfolger und Ober-Killer der Clans, Nitto Santapaola aus Catania. Die nach Falcones Tod ausgebrochene Effizienz der Fahnder wirkt wie eine Rache des Oberermittlers aus dem Grab.

Trotz der Erfolge sind die meisten Mafia-Experten allerdings eher skeptisch, was die Wirkung der Festnahmeerfolge für die Mafia betrifft: Nach recht zuverlässigen Erkenntnissen haben sich die Bosse schon seit Jahren darum gekümmert, im Falle ihrer persönlichen Niederlage immerhin ihre Binnenstrukturen und vor allem ihr Geld zu retten. Der Vorsitzende der Anti-Mafia-Kommission des Parlaments, Luciano Violante, sieht bereits „konkrete Hinweise, daß da auch ein Generationswechsel im Gange ist: Die alten Kalaschnikow- und Dynamit-Typen wie Riina und Santapola schaden der Mafia heute mehr, als sie nützen – wenn man so viel Geld hat, kann man auch geräuschlos mit Bestechung erreichen, was man vorher mit Knall und Bumm durchsetzen mußte.“