Ein Arbeiterführer als Retter Polens

Solidarność will eigene Regierung stürzen / Im ganzen Land Konflikte  ■ Aus Warschau Klaus Bachmann

Die polnische Gewerkschaft Solidarität ist auf dem besten Weg, die Regierung Suchocka, für deren Zustandekommen sie vor einem Jahr verantwortlich zeichnete, aus dem Sattel zu heben. Am Mittwoch hatte die Landeskommission, das höchste Gewerkschaftsgremium außerhalb der Delegiertenkongresse, beschlossen, gegen die Regierung ein Mißtrauensvotum im Parlament einzubringen. Inzwischen haben sich auch Abgeordnete anderer Fraktionen angeschlossen. Zugleich legte ein Streik des kommunalen Nahverkehrs weite Teile der Hauptstadt Warschau am Freitag lahm. Die Folge war ein Verkehrschaos. Bereits seit zwei Wochen streiken außerdem die Lehrer, in 10 Prozent aller Schulen mußten die Abiturtermine verschoben werden. Bestreikt wurden Betriebe in der Woiwodschaft Waldenburg (Walbrzych), in der mehrere große Gruben geschlossen werden sollen. Auch die unterbezahlten Krankenschwestern und Ärzte Polens oraniesierten Protestaktionen. Die „Huta Warszawa“, die erst vor wenigen Monaten von einem italienischen Hüttenkonzern aufgekauft wurde, befindet sich in einem unbefristeten Ausstand.

Für die Regierung Suchocka ist damit erneut eine ernste Lage eingetreten. Bereits vor drei Wochen hatte sich die Partei „Bauernverständigung“ aus der Koalition verabschiedet. Der Protest der Landwirte gegen die Verschleppung des Agrarprogrammes und für eine Anhebung der Mindestpreise für Weizen hatte Frau Suchocka ihre Parlamentsmehrheit gekostet. Mit dem Protest der Solidarität ist die Regierung Suchocka nun endgültig in der Minderheit. Als sicher gilt, daß die bisherige Opposition aus Zentrumsallianz, „Konföderation Unabhängiges Polen“ und Polnischer „Bauernpartei“ dem Mißtrauensantrag zustimmen werden. Retten könnte die Regierung dabei allenfalls noch die exkommunistische „Sozialdemokratie“. Die ist dazu auch bereit, vorrausgesetzt die Regierung zeigt Bereitschaft zu vorgezogenen Neuwahlen und Lohnerhöhungen für den staatlichen Sektor. Doch eine wie auch immer geartete Verständigung mit den Sozialdemokraten würde entweder zu einer Spaltung oder dem geschlossenen Austritt der rechten Christnationalen aus der Regierung führen. Frau Suchocka kann nur darauf hoffen, daß viele oppositionelle Abgeordnete nicht zur Abstimmung erscheinen.

Für den Fall eines Sturzes der Regierung schwebt „Solidarność“ die Bildung einer überparteilichen Regierung aus Fachleuten vor, die Präsident Walesa ernennen soll. Der aber hat sich dazu noch nicht eindeutig geäußert. Die starke und dem Präsidenten sehr verbundene innergewerkschaftliche Organisation der Belegschaften der Großbetriebe, das sogenannte „Netz“ verlangt schon seit geraumer Zeit, Walesa solle das Heft in die Hand nehmen und das Parlament entmachten. – Die Gewerkschaft ist Walesas einzig wirklich sichere politische Basis, die Parteien sind längst auf Distanz gegangen. Nach eigenen Angaben hat Walesa bereits eine „Schattenpartei“ in Wartestellung organisiert, konnte sich bisher allerdings noch nicht dazu durchringen, unmittelbare Verantwortung für die Regierungspolitik zu übernehmen. Zuletzt schien der Präsidenteher entschlossen, die Regierung Suchocka im Amt zu halten.