„... so ist auf Todesstrafe zu erkennen“

■ Der „Schandparagraph“ 218: Eine Chronologie vom Kaiserreich bis heute

Noch bis Mitte des 18. Jahrhunderts galt nur die „Abtreibung“ eines „lebendigen“ Kindes als „Tötung“ und wurde bestraft. Erst der 20. Titel des Allgemeinen Preußischen Landrechts von 1794 bestrafte Schwangerschaftsabbrüche mit Zuchthaus, unterschied aber noch Abtreibungen in den ersten 30 Wochen und danach; nur letztere galten als Tötungsdelikt.

Erst 1871 erblickt der § 218 im Strafgesetzbuch des Deutschen Reichs das Licht der Welt. „Eine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich abtreibt, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft“, hieß es ab diesem Zeitpunkt. Wer Schwangeren die Mittel zur Abtreibung beschaffte, ihr half oder den Abbruch vornahm, mußte mit Zuchthausstrafen bis zu zehn Jahren rechnen. Das Kaiserreich brauchte Soldaten; deutlich wurde das vor allem in der Zeit des Ersten Weltkriegs: 1914 mußten gut 1.600 Personen, 1916 1.900 wegen des § 218 ins Zuchthaus. – Schon in der Weimarer Republik forderten viele die Abschaffung des § 218. Käthe Kollwitz, Kurt Tucholsky und Albert Einstein setzten sich für die Streichung des „Schandparagraphen“ ein. 1926 wurde das Strafrecht daraufhin leicht gemildert; anstelle von Zuchthaus drohte nun die Gefängnisstrafe.

Trotzdem haben Frauen zu allen Zeiten abgetrieben, selbst als die Nazis 1943 das Abtreibungsverbot verschärften: „Hat der Täter die Lebenskraft des deutschen Volkes beeinträchtigt, so ist auf Todesstrafe zu erkennen.“

Nachdem Frauen nach Kriegsende kurze Zeit abtreiben durften, wenn sie von den „Siegern vergewaltigt“ worden waren, galt ab 1949 wieder der § 218 in ähnlicher Fassung wie zur Weimarer Zeit.

Mehr als zwanzig Jahre blieb der „Schandparagraph“ unangetastet. Als die neue Frauenbewegung Anfang der 70er Jahre den Kampf gegen den § 218 wieder aufnahm, gehörte die „Liberalisierung des Abtreibungsrechts“ zwar zum „Reformpaket“, das die SPD/ FDP-Koalition 1969 geschnürt hat. Doch die Regierung zögerte. „Jahn will Mord legalisieren“, donnerte damals schon die Katholische Kirche gegen den zuständigen Justizminister. Und so wurde der § 218 1971 nur sprachlich modernisiert. Aus der „Gefängnisstrafe“ wurde die „Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren“.

„Mein Bauch gehört mir“

In Holland und Frankreich waren inzwischen die Frauen auf die Barrikaden gegangen. Von Frankreich sprang der Funke auch auf die BRD über. Alice Schwarzer initiierte im Stern die Aktion „Ich habe abgetrieben“. Am 6. Juni 1971 titelte das Magazin mit dem Bekenntnis von 374 Frauen, darunter die Fernsehmutter der Nation, Inge Meysel. „Mein Bauch gehört mir“ hieß seither der Slogan der westdeutschen Frauenbewegung. Während in Westdeutschland der Aufruhr tobte, zog die Republik im Osten klammheimlich ihre Konsequenzen; Ost-Berlin wollte sich fortschrittlicher als der westdeutsche Nachbar zeigen. Sang- und klanglos trat in der DDR 1972 die heute im Osten noch gültige Fristenregelung ohne Beratungspflicht in Kraft.

Derweil brach der Zorn der Frauen im Westen erst richtig los. 1974 konnte sich die Regierungskoalition der Abtreibungsfrage dann nicht mehr entziehen. ÄrztInnen solidarisierten sich und drohten mit Boykott, wenn Abtreibungen nicht legalisiert würden. Am 11. März 1974 folgte eine zweite Selbstbezichtigungskampagne im Stern; 329 ÄrztInnen gaben zu, Frauen zur Abtreibung verholfen zu haben. Mit einer knappen Mehrheit von nur 14 Stimmen beschloß der Bundestag im April 1974 eine Fristenregelung, die Abtreibungen in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft legalisieren sollte. Doch der Jubel der Frauen währte nicht lang. Längst standen die „Lebensschützer“ parat und erhoben Klage beim Bundesverfassungsgericht.

Anfang 1975 fielen alle feministischen Hoffnungen in sich zusammen. Die Verfassungsrichter kippten mit einem 6:2-Votum die Fristenlösung. Der Bundestag wurde aufgefordert, den § 218 neu zu regeln. Ein Jahr später verabschiedete das Parlament die heute im Westen noch geltende Indikationsregelung. Abtreibungen sind danach in den ersten drei Monaten nur legal, wenn eine Frau Gründe vorbringen kann. Erlaubt ist es abzutreiben, wenn die Gesundheit von Mutter oder Kind gefährdet ist, nach einer Vergewaltigung oder wenn frau sich in einer „sozialen“ Notlage befindet. „Sozial“ muß seither alles heißen, was eine Frau davon abhält, ihre Schwangerschaft auszutragen: Lebensplanung, Ausbildung, Alter, der fehlende Partner oder schlicht der Unwille, überhaupt Mutter zu werden.

In den folgenden Jahren schien Ruhe an der Abtreibungsfront zu herrschen. Doch die Ruhe trügte. Vor allen in den südlichen Bundesländern wurde der § 218 ausgehöhlt. Als 1988 die Hetzjagd gegen den Memminger Frauenarzt Theissen und 200 seiner Patientinnen begann, war der Aufschrei groß. Doch der Paragraph blieb unangetastet. Die Abtreibungsgegner ließen die Jahre hingegen nicht ungenutzt verstreichen. „Lebensschützer“, innerhalb der Gesamtbevölkerung nur eine kleine Randgruppe, verschafften sich einflußreiche Posten in Ärztekammern, am Bundesgerichtshof und im Bundesverfassungsgericht.

Erst mit der deutschen Vereinigung 1990 wurde er wieder aus den Schubladen hervorgekramt. Denn laut Einigungsvertrag gilt es, einheitliches Recht zu schaffen. Sieben verschiedene Gesetzesentwürfe lagen dem Bundestag 1992 zur Abstimmung vor. Sie reichten von der Streichung des § 218 (Bündnis 90/Grüne/UFV) bis hin zum absoluten Abtreibungsverbot (Entwurf des CSU-Rechtsaußen Werner). Im Juni stimmten 357 von 662 Abgeordneten für den von SPD und FDP ausgehandelten Kompromiß, der eine Fristenregelung mit Beratungspflicht vorsieht.

Doch auch diesmal scheint der Jubel der Parlamentarierinnen zu früh angestimmt. Am 4. August 1992 stoppte das Verfassungsgericht per einstweiliger Verfügung das Gesetz: Bayern und 249 Unionsabgeordnete halten das geplante Abtreibungsrecht für verfassungswidrig.