Nachschlag

■ Hans Sahl Eine Gedenkveranstaltung

„So nehmt, o Brüder, eine Handvoll Erde

und gebt sie mir zum Abschied auf den Weg.

Ich weiß, daß ich bald sterben werde.

Ein Gast nimmt leise seinen Hut und geht.“

Einen Monat vor seinem Tod im April 1993 hat Hans Sahl diese Zeilen geschrieben. Sie sind abgedruckt in einem kleinen Programmheft des Renaissance-Theaters, wo am Sonntag vormittag eine Gedenkveranstaltung stattfand. Der Kultursenator war da, alle Plätze waren belegt, Bach wurde gespielt, die Schauspieler Udo Samel und Erich Schellow lasen Sahl-Texte, aus Hamburg kam Wolf Biermann, um ein vertontes Gedicht vorzutragen. Versöhnung und ein würdiger Abschied durch die Stadt, aus der Hans Sahl 1933 flüchten mußte? Es gibt keine Wiedergutmachung, es gibt höchstens die Chance, sich Erfahrungen nicht zu verweigern: Sahls Bücher sind eine einzige Aufforderung dazu – „Alles noch einmal überprüfen, nichts als gegeben hinnehmen, wachsam sein, ohne Vorurteile, gescheit und gütig zugleich und nie das eine ohne das andere...“ Die gelesenen Texte vermittelten eine kleine Ahnung davon: die beklemmende Flucht nach Prag, eine ironische Schilderung des Besuchs bei Thomas Mann, die Begegnung mit Ignazio Silone, schließlich die Gedichte: „Als sie zurückkamen aus dem Exil,/ drückte man ihnen eine Rose in die Hand./ ...Versöhnung fand statt auf dem Flugplatz in Tegel.“ 1993 wollten die beiden deutschen PEN-Clubs nichts von ihren noch lebenden Kollegen wissen – kalte, abwiegelnde Statements statt Rosen. Hans Sahl hat diese Schuftigkeit nicht mehr miterleben müssen. Sie hätte ihn auch kaum verwundert, Ausgrenzung war für ihn nichts Unbekanntes, für ihn, den jüdischen Dichter und Antifaschisten, der den Marxismus ablehnte. Dabei, und gerade deshalb, war er nie ein Eiferer.

Hans Sahl bleibt im Gedächtnis als ein grundgütiger Mensch, konsequent, doch ohne jede asketische Strenge. Als er mir 1992 in Tübingen von der merkwürdigen Reaktion Walter Jens' erzählte, der seit Sahls Rückkehr aus New York nicht einmal auf die Idee kam, den Emigranten zu sich einzuladen, war Hans Sahl hauptsächlich über meine Verwunderung amüsiert. Daß die Bewältigungs-Feldwebel der deutschen Nachkriegsliteratur Dissidenten und Emigranten als störend für ihr klinisch reines Weltbild empfanden, regte ihn nicht mehr auf; das Gefühl der Einsamkeit aber blieb. Vielleicht waren die jungen Menschen, die nach Tübingen pilgerten, die seine Lesungen besuchten oder die Bücher lasen, an seinem Lebensende ein kleiner Trost. Die Kunst des humanen Zweifelns lehren – welche bessere Aufgabe könnte es für einen Intellektuellen geben? Von Benn über Jünger bis zu Heiner Müller und Christa Wolf reicht die Kontinuität deutschen Versagens, des Schönredens, Ästhetisierens und Verinnerlichens von Terrorsystemen – aber auch das andere war da: couragiert, unheroisch, selbstironisch, verdammt anständig, ohne Selbstgerechtigkeit. Die Bücher und das Leben von Hans Sahl legen davon Zeugnis ab, erstaunlich gegenwärtig und nahe. „Und was ich war und bin und immer/ bleiben werde,/ geht mit mir ohne Ungeduld und Eile,/ als wär ich nie gewesen oder kaum.“ Oder kaum: Es ist die Verletzlichkeit solcher Nuancen, die Mut macht. Marko Martin