■ Ozon: Über die Mißachtung eindringlichster Warnungen
: Ist's Mayday oder Maikäferblues?

Berlin (taz) – Endlich! Seit vergangenem Samstag hat die deutsche Hauptstadt, inmitten des nordischen Dürregürtels, wieder etwas Luft. Es ist nicht mehr so brüllend heiß, die Menschen wanken nicht mehr wie Untote durch die Straßen der staubigen Stadt. Keine ausgedörrten Reibeisenkehlen, die die flehenden Worte „bitte... Schultheiß..., schneelll!“ nur mehr röcheln können. Keine ozongeröteten Augen oder unerklärlichen Erschöpfungszustände, auch kein beunruhigendes Rasseln mehr in der Brust. Wie lange noch?

Denn: Ich sage nur Ozon! Wissen die BürgerInnen, was sie tun, wenn sie sich hier, in der heißesten Gegend Europas, in überfüllte Freibäder schleppen oder zu anderen Sonnenjunkies auf Wiesen und in Parks gesellen, um sich braten zu lassen oder gar Sport zu treiben?

Hatte nicht schon Ende März die Weltgesundheitsorganisation (WHO) vor der dramatisch ansteigenden Zahl bösartiger Hautkrebs- Erkrankungen gewarnt? Jahr für Jahr, so die Organisation, steige die Rate maligner Melanome in vielen Ländern um erschreckende fünf bis zehn Prozent. Am meisten betroffen seien zwar nach wie vor die USA, Australien und Neuseeland, doch auch in Nordeuropa, der Schweiz und Kanada gehe die Zahl der Karzinome „rapide hoch“. In Schottland hätten die Hautkrebsfälle in einem Jahrzehnt gar um 80 Prozent zugenommen.

Oder waren die jüngsten Warnungen des Kieler Wissenschaftlers Otmar Wassermann, die anderen Gefahren der Ozonbelastung in der Luft für den Menschen zu unterschätzen, nicht eindringlich genug gewesen? Immerhin riet er Lehrern erstmals, „Widerstand zu leisten“, falls Lehrpläne auch an heißen Tagen das Fach „Sport im Freien“ noch immer aufwiesen. Eltern wurden aufgefordert, ihre Kinder, wenn sie sie schon hinausschickten, entsprechend zu kleiden und ihnen in jedem Falle eine Kopfbedeckung mitzugeben; und den dringenden Rat, sich körperlich nicht anzustrengen. Schon ein lockeres Um-den-Block-joggen – auch in den Abendstunden eines heißen Tages – könne doch „irreparable Schäden in den Bronchien“ verursachen.

Kurz: Es gilt, folgt man den Fachleuten, die Sonne ebenso zu meiden, wie die Korrupten es mit dem gleißenden Licht der Öffentlichkeit tun. Haben wir unserer gemeinsamen Mutter, der Spenderin allen Lebens auf dieser Erde, derart übel mitgespielt, daß sie uns nun nach dem Leben trachtet? Müssen wir ihre Rache fliehen? Sicher, am liebsten würden wir in Ruhe alle Möglichkeiten durchgehen, wie wir ihr dieses Benehmen ordentlich heimzahlen können. Aber das geht nicht! Ganz gleich, was wir tun oder lassen: Mutti bleibt! Allenfalls frißt sie uns; und würde dabei vermutlich noch nicht einmal rülpsen.

Etwas in unserem Leben ändert sich radikal, und diese „Wende“ ist ungleich schwerwiegender und folgenreicher als alle bisherigen: Schritt für Schritt bereiten wir uns darauf vor, von der Oberfläche dieses Planeten zu verschwinden. Wir ziehen uns zurück, kapseln uns allmählich ab von den Einflüssen der Natur wie weiland die unschönen Morlocks der „Zeitmaschine“. Aber wir tun es eben nur ganz allmählich, so als wollten wir diese „Wende“ schlichtweg nicht wahrhaben: Zwar sieht die WHO eine Obergrenze der Belastung schon bei 120 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft erreicht. Doch stört das offensichtlich niemanden. Schon letztes Jahr war beispielsweise der sogenannte EG-Schwellenwert von 180 Mikrogramm an 80 Tagen überschritten worden. Und bereits Mitte März dieses Jahres wurden 216 Mikrogramm im Schwarzwald, 193 im Bayrischen, 156 in Ulm und Ende April 180 in Berlin gemessen.

Die Bonner Regierungskoalition begründet derweil ihr Nichtstun mit der originellen These, Ozon werde doch primär von der Sonne und nicht etwa von Schadstoffen gebildet. Kein Gedanke an ein Tempolimit oder die Einführung autofreier Innenstädte. Immerhin, der Bundesumweltminister hat für den Sommer eine Sommersmogverordnung angekündigt.

Weil auch die Wissenschaftler sich, wie immer, nicht einig sind, hat also der Mensch noch freie Wahl: Er kann das Problem ernst nehmen, sich und andere zu schützen suchen. Er kann es auch als Panikmache profilneurotischer Eierköpfe begreifen, als Maikäferblues gleichsam. Stellt sich unser „Sonnenproblem“ irgendwann tatsächlich als vorübergehendes, höheren Gewalten gehorchendes Phänomen dar, so sind diejenigen, die Angst hatten und sich schützten, vielleicht übersensible Dummerle gewesen. Bestätigen sich aber die Befürchtungen der Experten, so werden die Mutigsten und die Gleichgültigen die ersten sein; beim Dahinsiechen und Sterben.

Eines ist immerhin sicher: Die Abzocker und Wichtigtuer, ob sie sich nun Politiker, Manager oder Beamte nennen, sind stets in „Sachzwängen“ gefangen, die ihre eigenen Prioritäten haben. Da kann es schon sein, daß der „Schutz des geborenen Lebens“ auch mal ganz obenan steht. Oder auch mal nicht. Je nachdem, was sich gerade so rechnet – oder zusammenbraut. Philippe André