Die unsichtbare Steuer

■ Der "volkswirtschaftliche Muntermacher" Werbung kostet jede BürgerIn 600 Mark pro Jahr

Von Hans J. Kleinsteuber

Revolutionen kommen meist schleichend. Als 1984 im „Urknall“ des Ludwigshafener Kabel- Pilotprojekts das öffentliche Sendemonopol gebrochen wurde, nahm dies kaum jemand zur Kenntnis. Das Pilotprojekt samt seiner Begleitforschung ist längst Geschichte; das Nachdenken über die Konsequenzen wurde seinerzeit konsequent ausgespart. Erst heute vermögen wir die Folgen zu benennen: der ungebrochene Siegeszug des kommerziellen Fernsehens. Dieser Typ Fernsehen, so belehren uns die Medienökonomen, lebt davon, daß er Zuschauerschaften an die werbetreibende Wirschaft verkauft. Je mehr Zuschauer er mit den Werbebotschaften in Kontakt zu bringen vermag, um so besser verdient er. Nie war es so wichtig, diese zentrale Logik der Werbung zu begreifen.

Anfang Mai legte die zentrale Lobby der deutschen Werbewirtschaft ZAW (Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft) ihre Zahlen für das letzte Jahr vor. Nach ihren Angaben wurden 1992 insgesamt 47 Milliarden DM für Werbung ausgegeben, ein Anstieg gegenüber dem Vorjahr von 8,8 Prozent. Rechnen wir einmal diese horrende Summe auf die 79 Millionen Bundesbürger um, so zahlte in jenem Jahr jeder Deutsche rechnerisch etwa 600 DM, sozusagen als Werbesteuer. Ohne Wahl- und Ausfluchtmöglichkeiten wurde sie unsichtbar eingezogen. Um diesen Betrag wären die von uns gekauften Produkte und Dienstleistungen billiger, wenn sie nicht beworben würden.

Von diesem Geld bleibt etwa ein Drittel bei den Profis in den Werbeagenturen hängen. Der Rest geht in die Medien. Diese werden sachlogisch richtig als „Werbeträger“ bezeichnet, womit ihre publizistische Leistung schon begrifflich zum Zuträger für die Werbewirtschaft verkommt. 1992 erhielten die Medien 31,1 Milliarden DM.

Werbeausgaben steigen schneller als das Sozialprodukt

Die Werbewirtschaft tritt offensiv auf, besonders gegenüber ihren Kritikern. „Volkswirtschaftlicher Muntermacher“ müsse die Werbung sein, und gerade in der jetzigen Krise sei antizyklisches Hochfahren der Reklame wichtig. Die dümpelnde Autobranche hielt sich daran und erhöhte 1992 ihre Ausgaben um 18 Prozent auf 1,8 Milliarden DM. Sie ist der größte Reklamemacher der Republik – sicherlich auch eine Erklärung dafür, daß wir seit Jahren unfähig sind, von einer automobildominierten Verkehrspolitik herunterzukommen. Interessant, daß nach den Handelsketten die Massenmedien selbst der drittgrößte Werbeinvestor sind, mit einer guten Milliarde und gleichfalls satten Zuwachsraten von über 18 Prozent.

Eine genauere Analyse der Daten läßt derzeit drei zentrale Tendenzen erkennen. Erstens: Die Ausgaben für Werbung steigen Jahr für Jahr massiv an, d.h. deutlich schneller als das Sozialprodukt. Zweitens: Das Fernsehen saugt sich auf Kosten anderer Medien mit Geld voll. Und drittens: Dieses Geld geht an die kommerziellen Anbieter, währen die öffentlich-rechtlichen in existenzbedrohender Weise verlieren.

In den letzten Jahren stiegen die Ausgaben für Werbung jährlich um beachtliche 8 bis 10 Prozent. Von diesem Werbeboom profitierten die Werbeträger allerdings sehr unterschiedlich. Das Fernsehen legte 1992 um 16,8 Prozent auf 4,3 Milliarden zu; 1991 hatte es noch 30 Prozent plus geschafft. Das bedeutet, daß es im letzten Jahr um einen Prozentpunkt auf 14 Prozent aller Werbeausgaben zugelegt hat. 6,3 Milliarden DM sind in diese Branche geflossen, 70 Prozent davon allein in die Taschen der kommerziellen Anbieter. Zugelegt haben auch die Werbung per Post (1992: plus 17 Prozent) und Adreßbücher (plus 15,9 Prozent). Erstaunlich schlecht schneidet der Hörfunk ab, obwohl viele neue Dudelsender angetreten sind, den Werbemarkt systematisch abzugrasen; bei einem Marktanteil von gerade 4 Prozent wuchsen die Einnahmen um unterdurchschnittliche 3,4 Prozent. Selbst das perfekt auf Konsumentengruppen ausgerichtete Formatradio scheint hier nicht mehr zu ziehen.

1984, als alles anfing, gingen nur 8 Prozent aller Werbeausgaben der Wirtschaft an das Fernsehen, der Rest an die anderen „Werbeträger“, darunter insbesondere die Printmedien, aber auch Radio, Außenwerbung, Kino etc. Damals ging das gesamte TV-Werbegeld an die öffentlichen Anbieter mit ihrem Vorabendprogramm. 1992 kassierten sie gerade noch 30 Prozent. Sat.1, RTL & Co. wuchsen in den letzten Jahren mit Raten von teilweise mehr als 40 Prozent an. Für 1993 erwarten sie einen Gesamtanteil am Werbekuchen von sechs Milliarden DM. Während wir über öffentlich-rechtliche Rundfunkgebühren klagen, sahnen die Kommerziellen im verborgenen ab. Jeder TV-Haushalt berappt umgerechnet etwa 170 DM an sie. Tendenz stark steigend.

Wie konnte das geschehen? Die neuen Anbieter, nur versehen mit der freundlichen Bitte der zahnlosen Mediengesetze, doch nicht mehr als 20 Prozent der stündlichen Sendezeit mit Werbung zu füllen, inflationierten die Werbezeiten. Die Öffentlich-Rechtlichen, weiterhin an ihre 20 Minuten pro Werktag gebunden, mußten hilflos zusehen, wie sie für dieselbe Werbezeit immer weniger Geld erhielten. Und je mehr Werbung insgesamt gezeigt wird, um so schlechter wird es den Öffentlichen gehen müssen. Das ist die harte Logik der Werbeökonomie.

Der Goldsegen für die kommerziellen TV-Anbieter, so flöten deren Protagonisten, schaffe wegen der neuen Anbieter auch mehr Meinungsvielfalt. Über die Qualität der neuen Programme kann man bekanntlich streiten – hier geht es nur um ökonomische Zusammenhänge. Tatsache ist, daß das kommerzielle Fernsehen seinen riesigen Zugewinn auf Kosten der Öffentlich-Rechtlichen abzockte. Die sind nun bei sinkenden Einnahmen in ernsten Schwierigkeiten und verlangen folgerichtig Gebührenerhöhungen.

Zudem gefährden die neuen TV-Anbieter mit ihrem Werbehunger die Printmedien. Bezogen letztere 1984 noch das 7,5fache des Werbegeldes aller Fernsehanbieter, so erhielten sie 1991 nur noch das Vierfache. Während das Fernsehen in diesem Zeitraum seinen Anteil am Werbekuchen um 6 Prozent auf 14 Prozent erhöhte, sanken die hauptbetroffenen Tageszeitungen und (Publikums-)Zeitschriften von sicher scheinenden 54 Prozent auf eher magere 42 Prozent. 1992 verloren die Tageszeitungen wieder einen Prozentpunkt an das Fernsehen. Tendenz weiter massiv sinkend.

Am schlimmsten erwischte es die Zeitschriften, die im Jahre 1991 sogar absolute Einnahmeminderungen hinnehmen mußten; 1992 kamen sie wieder auf ein mageres Plus von 4,1 Prozent. 1984 erhielten sie noch das Doppelte aller Einnahmen des Fernsehsektors, 1991 übertraf letzterer sie bereits um etwa ein Drittel. Werbetreibende sehen im TV ein den gängigen Zeitschriften ähnliches, aber durchschlagkräftigeres Werbemedium. Die Abwanderung aus den Publikumszeitschriften hat Konsequenzen; nicht zufällig sprang letztes Jahr die Quick über die Klinge. Und sie wird nicht die einzige Zeitschrift bleiben. In den USA killte das Fernsehen die früheren Publikumsrenner Life und Look.

Die Lobbyisten des ZAW reden diese Entwicklungen klein. Nichts Wesentliches habe sich verschoben, behaupten sie Jahr für Jahr. Tatsache ist dagegen, daß die Umschichtungen dramatisch sind und kein Ende abzusehen ist. Warum so wenig darüber geredet wird? Die großen Medienkonzerne wie Bertelsmann und Springer sind auch die großen Gewinner. Da sie sich rechtzeitig Löwenanteile am Goldesel TV-Lizenzen gesichert haben, geht für sie die Rechnung auf. Sie verlieren weniger bei ihren Printmedien, als sie im Fernsehen gewinnen. Für fernsehlose Anbieter – kleine Lokalzeitungen, Zweitzeitungen – zeichnen sich dagegen harte Zeiten ab. Vor kurzem erwischte es die älteste deutsche Tageszeitung aus Wolfenbüttel.

Quality-TV avanciert zum Luxusartikel

Wie wird es weitergehen? Wohl erst einmal wie bisher, die Werbeausgaben werden also weiter überproportional ansteigen. Im Vergleich mit den USA wird sogar behauptet, wir seien Reklameentwicklungsland. Dort gehen bereits sagenhafte 2,4 Prozent des Sozialprodukts in die Werbung, bei uns erst die Hälfte davon. Außerdem werden wir ein weiteres deutliches Ansteigen der TV-Werbung bekommen, in den USA reicht sie im Volumen schon nahe an das aller Printmedien zusammen heran.

Dort gingen bereits 1990 gut 26 Milliarden Dollar, also weit über 40 Milliarden DM Werbegelder an die TV-Industrie. Da gibt es noch viel nachzuholen und abzukassieren für unsere kommerziellen Seifenoper- und Softporno-Anbieter. Schlimm sieht es dagegen für den Hauptverlierer aus: In wenigen Jahren wird das Werbeaufkommen der Öffentlich-Rechtlichen bei Weiterwirken der völlig ungleichen Konkurrenzbedingungen bedeutungslos geworden sein. So werden wir doppelt zu zahlen haben: über die kompensatorischen Gebührenerhöungen bei den Öffentlichen und die rasch anwachsende „Werbesteuer“ bei den Kommerziellen. Die sozialen Kosten der Kommerzialisierung werden erst jetzt wirksam.

Und die Langzeitperspektiven? Bleibt der Trend, dann wird sich das Fernsehangebot intern spalten. Nach US-Vorbild wird es noch mehr von der werbegespickten Seichtware für diejenigen geben, die für das Programm nicht zahlen wollen oder können. Den Zahlungswilligen werden dagegen gepflegte werbefreie Programme im Stil unseres Abonnementkanals premiere angedient. Bessersituierte holen sich in den USA heute oft schon eine ganze Palette von Pay-TV-Kanälen und sind dafür schnell einmal 100 Dollar im Monat los. Nicht-Werbung ist längst ein Verkaufsknüller in den USA: Filmtheater erhalten Warner- oder Disney-Filme nur noch, wenn sie auf Kinowerbung verzichten.

Vielleicht wird den Zuschauern die Informationsüberflutung aber auch einfach zu viel. 300.000 Werbespots sind 1991 bei uns gesendet worden. Aber Untersuchungen belegen, daß die Zuschauer diese Werbelawine kaum mehr aufnehmen. Verarbeiteten sie in den sechziger Jahren noch 30 bis 40 Prozent aller Werbebotschaften, so ist es heute kaum mehr ein Prozent. Dieses pikante Thema beschäftigt längst auch die Werbewirtschaft, die ihre eigenen sibyllinischen Schlüsse zieht. „Ebenso wie es keine Marktsättigung gibt, sondern nur falsche Produkte, gibt es keine Informationsüberlastung, sondern allenfalls wirkungslos gebliebene Werbung“ (ZAW 1992). Warum verzichtet man dann nicht ganz auf sie?

Es herrscht Werbekrieg, aber keiner schaut hin! Man male sich folgendes aus: Die werbetreibende Wirtschaft stellt fest, daß ihre Spots wirkungslos sind, und setzt sie ersatzlos ab. Die Produkte können billiger werden, Werbeagenturen geraten in die Krise, und die kommerziellen TV-Anbieter packen ein. Eine heikle Vision, darum scheuen die Werbewirtschaft und die von ihr ausgehaltenen Medien gemeinsam das Thema wie der Teufel das Weihwasser. Aber so ganz abwegig ist die Vision einer Post-Reklame-Epoche nun doch nicht: Dann dürfen verführerisch berieselte Werbeadressaten wieder zu ernstgenommenen Lesern oder Zuschauern werden.

Hans J. Kleinsteuber ist Professor für Politische Wissenschaft an der Uni Hamburg.