Wenn die andern feiern...

■ Warum die linke Tageszeitung "Liberation" ohne Jubeltrubel 20 Jahre alt wurde

Paris (AFP/taz) – Der Jubilarin war der eigene Geburtstag noch nicht einmal eine Notiz wert: In aller Stille hat die französische Tageszeitung Libération am Samstag ihr zwanzigjähriges Bestehen auf ihren eigenen Seiten übergangen. Für die rechte Freude fehlten die Voraussetzungen: Der runde Geburtstag fällt in eine Krisenperiode der gesamten französischen Presse, die unter rückläufigen Werbeeinnahmen und Leserschwund leidet. Zudem hat sich Serge July, seit zwölf Jahren der charismatische Chef des Hauses, noch nicht völlig von einem schweren Autounfall vor mehreren Monaten erholt. Die Libération-LeserInnen müssen sich also bis zum September gedulden, in dem eine Jubiläumsausgabe herauskommen soll – und voraussichtlich eine tiefgreifende Erneuerung der Zeitung angekündigt werden wird.

Für Libé, wie die Zeitung von ihren Stammlesern liebevoll genannt wird, wäre es nicht die erste Umstellung. In seiner zwanzigjährigen Geschichte wandelte sich das Blatt vom antiautoritären Experimentierorgan zu einem wirtschaftlich geführten und viel zitierten Titel in der Medienlandschaft.

Die ersten Jahre des Blattes waren kämpferisch und chaotisch. Die von Jean-Paul Sartre und Spät-68ern aus dessen Umfeld gegründete Tageszeitung wurde mit kollektiver Verwaltung und primitiven technischen Mitteln produziert. Die Gehälter waren mager und einheitlich: Vom Drucker bis zum Leitartikel-Schreiber verdienten alle das gleiche. Das Blatt wimmelte von Druckfehlern, und die Setzer fanden nichts dabei, die Artikel mit ihren eigenen Ansichten anzureichern. Der neue Ton wurde zum Stil: frech, respektlos, reich an Wortspielereien und originellen, schlagkräftigen Titeln. Die „Zeitung vom Volk für das Volk“ kümmerte sich um gesellschaftliche Randgruppen, die bis dahin in anderen Zeitungen nicht zu Wort gekommen waren, um Häftlinge, Prostituierte, Drogensüchtige. Zu ihrem antikonformistischen Image trugen auch die Kleinanzeigen bei: Sie waren umsonst und dienten in den Zeiten vor der Aids-Furcht in erster Linie der Suche nach Sexualpartnern.

Doch trotz diverser Spenden und Abonnements kam die Zeitung, die sich trotzig ohne Werbung durchschlug, über eine Auflage von 45.000 nicht hinaus. Ihre sorgsam gewahrte redaktionelle Spontaneität verhinderte, daß sie neben „seriösen“ Presseorganen wirklich ernst genommen wurde. 1981 kam es zur offenen Krise zwischen „Hardlinern“, die jede Konzession an das Kapital ablehnten, und „Modernisten“, die für eine flexiblere und offenere Linie, Wahrnehmung der wirtschaftlichen Realität und Verzicht auf ideologische Glaubensbekenntnisse plädierten.

Auf der Höhe des Kampfs erschien Libération elf Wochen lang nicht, von 21. Februar bis 13. Mai. Zwei Tage nach der Wahl des Sozialisten François Mitterrand zum Präsidenten fiel die Entscheidung: Ende der „Phase 1“ und Aufbruch zur „Phase 2“. Die Modernisten hatten gesiegt. Ein Chefredaktionskollektiv wurde eingesetzt, in dem sich Serge July bald als bestimmende Kraft herausschälte. Er proklamierte die Wende nach „sieben Jahren Nullnummern“. Im Februar 1982 brach Libération mit dem bis dato eingehaltenen Tabu, keinerlei Werbung zu veröffentlichen. Ein Jahr darauf nahm die hausinterne AG erstmals Aktionäre von außen auf – Medien-„Kapitalisten“ wie Antoine Riboud, Gilbert Trigano oder Jerome Seydoux hielten ihren Einzug. In den darauffolgenden Jahren wurde ihr Aktienanteil, der zunächst auf neun Prozent beschränkt war, Zug um Zug auf 44 Prozent angehoben. „Phase 2“ erwies sich als wirksam. Die Auflage erreichte 1984 bereits 116.000, und dies trotz der Konkurrenz des damals noch florierenden sozialistischen Flaggschiffs Matin de Paris.

Die neue Libération führte neue Rubriken – darunter auch eine über die Börse – ein, baute ihr Korrespondentennetz aus und versuchte sich mit wechselnden Erfolgen in der Multimediastrategie. 1986 wurde in der südostfranzösischen Metropole Lyon die Regionalausgabe Lyon-Libération lanciert, die der Brückenkopf eines künftigen Netzes von regionalen Niederlassungen sein sollte. Doch 1992 mußte Lyon-Libération nach erheblichen Verlusten eingestellt werden.

In ihrem 20. Jahr dümpelt die etwas braver gewordene einstige Anarchisten-Stimme in der Gesamtflaute der Presse. Seit fünf Jahren sinkt die Auflage von Libération, die 1988 davon träumte, die Schwelle zu 200.000 Exemplaren zu überschreiten. 1992 lag sie bei 170.000. Wegen sinkender Werbeeinahmen ging der Gewinn von zwölf Millionen Franc (rund 3,6 Millionen Mark) 1991 auf gerade eine Million Franc (rund 300.000 Mark) im vergangenen Jahr zurück. Die zu erwartende „Phase 3“ wird vor allem eine Antwort auf die Frage bieten müssen, wie die nun schon recht etablierte Libé wieder junge LeserInnen für sich gewinnen kann. Pierre Maillard