Kartographie des Selbst

■ Identitäten: Mit Siri Hustvedt sprach Peter Laudenbach

taz: Eine Figur Ihres Romans, Mr. Morning, schreibt Erzählungen und erfindet sich für jede Story ein anderes Pseudonym. Sie selbst geben der Roman-Protagonistin Iris Ihren eigenen, rückwärts gelesenen Vornamen. Hat Schreiben damit zu tun, eine andere Identität anzunehmen?

Siri Hustvedt: Ja, ich denke schon. Ich glaube, die meisten Autoren wissen nicht, woher ihre Geschichten kommen. Sie tauchen einfach auf. Die Figuren sind wie Stimmen. Mr. Mornings Stimme zum Beispiel ist sehr verschieden von Iris' Stimme. Woher sie kommen, ist schwer zu sagen. Die Erfahrung des Schreibens liegt wohl darin, alle möglichen Stimmen zu hören. Natürlich gehört zum Prozeß des fiktionalen Schreibens auch, die Stimmen mit einem Namen zu versehen.

Für Beckett kommen diese Stimmen aus einem mentalen Innenraum.

Ja, richtig. Aber ich denke, aufgrund der Natur der Sprache sind die Räume sowohl innerlich als auch äußerlich. Sprache ist dieses seltsame Ding, das in einem und gleichzeitig außerhalb ist. Ohne die Erfahrung, gesprochene Sprache gehört zu haben, könnte man diese Stimmen nie finden.

Ihre Protagonistin Iris übersetzt eine sadomasochistische Erzählung und steigert sich in die Phantasien dieser Geschichte hinein. Hat Literatur für Sie mit einer Grenzüberschreitung zu tun?

Ja. Schreiben ist immer die Erfahrung des „Anderen“. Einfach alles andere, das Nicht-Ich, das philosophische Andere – mit großem A. Es fängt schon sehr früh an in der Biographie. Aber beim Schreiben kann man diese Erfahrung weitertreiben.

Heißt Schreiben, etwas über sich selbst zu erfahren?

Es ist beinahe wie Geographie: es gibt eine eigenartige Landkarte des Selbst. Es gibt sicher Grenzen dieser Karte. Wenn man schreibt, hofft man, daß man sich zumindest durch verschiedene Teile dieser Karte bewegt, und oft tauchen dabei Dinge wiederholt auf. Jetzt, wo ich mein zweites Buch schreibe, sehe ich, obwohl das Buch sehr anders als das erste ist, daß es kleine Obsessionen gibt, kleine Dinge, die immer wieder auftauchen in meiner Arbeit. Es ist dieselbe Landkarte, dieselbe Welt, aber aus einer anderen Perspektive.

Ihren Figuren entgleitet ständig die Realität. In der Welt Ihres Romans ist der Realitätswahrnehmung nicht zu trauen. Erleben Sie Wirklichkeit als etwas Flüchtiges, etwas Fragiles?

Ja. Ich denke, es gibt das Problem, daß man, um zu denken, in Kategorien denken muß. Aber diese Kategorien sind sehr einengend, sie blockieren die Wahrnehmung und schließen die Welt in Kästchen ein. Es ist sehr einfach, etwas in eine Schublade zu tun und dann zu vergessen. Ich will die Kategorie aufbrechen und zerstören, die Mauern zwischen den Dingen einreißen. Die wirkliche Natur der Dinge ist wesentlich dynamischer als die Ordnung der Kategorien.

Ist diese „wirkliche Natur“ gewalttätig?

Ich denke, daß allein die Vorstellung, Kategorien zu durchbrechen, Unsicherheit erzeugt. Allein der Akt, eine bestimmte Sehgewohnheit zu zerstören, ist etwas Gefährliches. Natürlich hat das etwas mit Gewalt zu tun. Das komische ist, daß mir persönlich Sicherheit sehr wichtig ist. Ich kann das Halbdunkel nicht aushalten. Ich mache in der Wohnung immer alle Lampen an, damit ich alles klar sehen kann. Dunkelheit, Obskurität, Unordnung machen mir Angst. Und das ist der Grund, weshalb ich darüber schreiben muß: weil es mir Angst macht. Im Leben mag ich es nicht, aber in der Arbeit muß ich meinen Blick darauf richten.

Ihr Roman wimmelt von voyeuristischen Blicken. Ist Ihr Schreiben, Ihr Blick auf das Leben voyeuristisch?

Ich denke, es gibt eine voyeuristische Obsession, aber das war mir vorher nie klar. Das Buch wiederholt ständig voyeuristische Szenen. Schon am Anfang, als die Frau aus dem Fenster sieht und ihre Nachbarn gegenüber beobachtet. Das komische ist, daß man beim Schreiben nicht darüber nachdenkt, aber später ist es dann nicht zu übersehen.

Den voyeuristischen Blicken korrespondiert, daß Klaus, der sadistische Junge in der Erzählung, die Iris übersetzt, einem Hund die Augen aussticht. Neben dem Terror der Blicke die Gewalt, einen Blick zu zerstören.

Es ist seltsam, ich habe nie über diesen Zusammenhang nachgedacht. Aber offensichtlich ist Ihre Beobachtung richtig. Auf englisch heißt das Buch „The Blindfold“ – also etwa „mit verbundenen Augen“. Offenbar gibt es eine Obsession, die immer wieder auftaucht... Wenn man schreibt, weiß man nicht, weshalb etwas so und nicht anders sein muß, aber an einem bestimmten Punkt merkt man, daß es so stimmt. Manchmal versteht man erst später, weshalb man etwas so geschrieben hat, manchmal auch nicht. Sie haben mir eben eine Möglichkeit gezeigt, weshalb die Entscheidung zu schreiben, daß Klaus die Augen des Hundes mit einer Nadel aussticht, richtig war.

Ist Ihr Schreiben autobiographisch?

Es ging mir beim Schreiben nicht darum, „Literatur zu machen“, ich würde im Schreiben eher eine Art von Reise sehen. Der Ausgangspunkt sind immer private Erfahrungen, die ich normalerweise nicht verstanden habe.