Geburtstagsfeier in schwieriger Zeit

Die SPD gedachte in Leipzig ihres 130. Gründungstages / Wolfgang Thierse sichtet das Erbe, Johannes Rau verbreitet Zuversicht, eine Denkmalsenthüllung scheitert am Einspruch des Kunstbeirates  ■ Von Christian Semler

Vor der 48er-Revolution stand es schon, das „Concert- und Ball- Etablissemant“ zu Leipzig, an der Ecke Dresdnerstr./ Gerichtsweg und hier war es auch, wo am 23. Mai 1863 sich der Allgemeine deutsche Arbeiter-Verein (ADAV) konstituierte – die Geburtsstunde der SPD, wenn man den heutigen Parteichronisten Glauben schenken darf. Das Gebäude, das seinem rechteckigen Grundriß zum Trotz „Pantheon“ genannt wurde, überstand Kaiserreich, Weimar, die Naziherrschaft und den 2.Weltkrieg, um dann doch, zu Beginn der 70er Jahre, dem Platten-Wohnbauprogramm der frühen Honecker-Ära zum Opfer zu fallen. Eine verschämte Gedenktafel, die von dem Gründungsakt berichtet hatte, ging bei den Abrißarbeiten verschütt. Kein großes Drama, denn Dr. Lassalle und seine Freunde waren bei den Realsozialisten sowieso nicht sonderlich beliebt.

Rund 200 Menschen samt Blasorchester versammelten sich am vergangenen Sonntag auf der Grünfläche vor den Neubauten, um des 130. Geburtastags zu gedenken, mißtrauisch beäugt von den Anwohnern, die um ihren Rasen fürchteten. Ein Denkmal des Leipziger Künstlers Stefan Th. Wagner sollte enthüllt werden und der stellvertretende Parteivorsitzende Wolfgang Thierse die Gedenkansprache halten. Thierse kam, aber das Denkmal blieb unsichtbar. Es war nach einem Einspruch des Kunstbeirats der Stadt Leipzig als ästhetisch ungenügend aus dem Verkehr gezogen worden. Eine Blitzumfrage unter den Feiertagsgästen, meist Honoratioren und SPD-Aktivisten mit gepflegtem Bartwuchs, bestätigte das Urteil des Gremiums. Wenn schon, dann lieber realistisch.

Für die Agitation auf der Wiese sorgte neben einem einsamen Transparentträger, der Rosa und Karls berühmtes „ich war, ich bin, ich werde sein“ kurzerhand für die SPD reklamiert hatte, nur der „Hofgeismarer Kreis“. Diese Leipziger Juso-Truppe, die ihren Namen einer liberalen SPD-Oppositionsbewegung aus Weimarer Zeiten entlehnt hat, ist bundesweit durch betont „nationales“ Gehabe aufgefallen. Sie nutzte den Jahrestag, um auf Flugblättern für Lassalles „sittlich geordnetes Gemeinwesen“ zu werben. „Nächste Woche wird Dr. Fichter von der zentralen Parteischule bei uns sein“ frohlockte einer der Deutsch-Nationalen. Armer Tilmann!

„Wir dürfen“, so der Leipziger Oberbürgermeister Karl-Heinz Kunckel später auf dem Festakt im Rathaus, „der Frage junger Sozialdemokraten nicht ausweichen, ob nicht auch heute ein „neues nationales Selbstbewußtsein“ die Grundlage zu einer wirklich „lebensfähigen internationalen Zusammenarbeit“ bilden soll“. „Vorsicht bei den Antworten!“ meinte Kunckel und: „Wir stehen weder über noch unter den uns benachbarten Nationen, sondern daneben!“. „Touche“, wie man zu Lassalles Zeiten gesagt hätte.

Zurück zur Grünanlage an der Dresdener Strasse. Wolfgang Thierse hielt eine ausgesprochen interessante Rede. Ihr Ausgangspunkt war Lassalles Ansprache vor den Berliner Borsig-Arbeitern, die unter dem Titel „Arbeiterprogramm“ eine starke Wirkung auf die Leipziger „Gründerväter“ ausübte. Nach Thierse entwickelt Lassalle dort die These, daß nur ein selbstgestalteter, demokratischer Staat der Emanzipation der Arbeiterklasse den Weg ebnen könne. Lassalle habe den modernen Sozialstaat antizipiert, einen starken Staat, so wie die Schwachen ihn bräuchten. Aber diese Staat habe die Erziehung zur Freiheit postuliert, im Gegensatz zum SED- Staat, der seine Schutzbefohlenen in immerwährender Abhängigkeit habe halten wollen. Das Primat des Politischen bei Lassalle sei aber nicht gegen Selbsttätgkeit und Selbstbestimmung gerichtet gewesen. So könne man aus Lassalles Idee der staatlichen Förderung von Produktionsgenossenschaften die aktuelle Forderung ableiten, Betriebs- oder LPG-Kollektive bei der Übernahme der einstmals volkseigenen Betriebe zu unterstützen, wo immer das ökonomisch sinnvoll sei. Zu DDR-Zeiten habe ein einfaches Gut-Böse-Schema gegolten: gut seien die „Eisenacher“ und Bebel gewesen, schlecht, revisionistisch und verräterisch die „Leipziger“. Jetzt sei es an der Zeit, unvoreingenommen über „das Erbe“ zu befinden.

So seltsam angesichts der historischen Fakten (man denke nur an Lassalles Anbiederung an Bismarck) diese linke Inanspruchnahme des königlich preussischen Staatssozialismus durch Thierse auch anmuten mag, sie zeigte den Versuch einer produktiven Auseinandersetzung. Das konnte man dem Grundsatzreferat Johannes Raus auf der abendlichen Festveranstaltung im Leipziger Rathaus beim besten Willen nicht bescheinigen. Der amtierende Vorsitzende stand allerdings vor der kaum zu bewältigenden Aufgabe, anläßlich des Geburtstags sowohl Freude als auch Stolz als auch Zuversicht zu verbreiten. Der Schock über Engholms Demission setzte sich bis in die Worte fort, mit denen Rau begrüßt wurde: „Wir freuen uns, Johannes, daß Du heute denjenigen vertrittst, der aus Gründen, die uns bekannt sind, nicht unter uns weilt“. Den großen Abwesenden anzielend, machte Bruder Johannes auch den einzigen guten Witz des Abends. Nach heutigen Maßstäben, so sagte er, wäre Lassalle wohl eher der Toscana-Fraktion zuzurechnen gewesen. Rau, der Erzähler, versagte sich an diesem Abend das Geschichte(n)erzählen. Statt dessen konzentrierte er sich, sehr zum Schaden seines Vortrags, darauf, sein strategisches Lieblingsthema zu variieren. Die SPD muß Menschen unterschiedlicher Gesinnung und Interessen um wenige zentrale Projekte herum zusammenführen. Der Spagat, der der alten Dame SPD zugemutet werde, sei in Wirklichkeit ein Brückenschlag. Es gelte, das „Bündnis der Vernunft“ zu schliessen, die Aktionseinheit derer, die Solidarität brauchen, mit denen, die sie üben wollen, um der keineswegs erledigten „sozialen Frage“ auf den Leib zu rücken. Solidarisches Handeln sei auch gegenüber den künftigen Generationen Pflicht, daher die Notwendigkeit, die Staatsverschuldung zu begrenzen, die Umwelt zu schonen und die Versicherungssysteme nicht zu ruinieren. Wie aber all diese schönen Dinge zu verwirklichen seien, dazu fiel dem Ministerpräsidenten wenig ein. So ratlos wie er selbst eilten nach Ende des Festakts die Gäste, darunter, betont unauffällig auch der Prätendent Schröder, zu Bier und Limonade, zurück ins sichere Milieu.