Wie kam David in die Wanne?

■ Versuchter Mord oder Unglücksfall: 48jähriger Mann soll zweijähriges Kind seiner Freundin im Bad verbrüht haben

Moabit. War es ein tragischer Unfall oder versuchter Mord, was den zweieinhalbjährigen David W. im Februar 1992 fast das Leben gekostet hatte? Das Kind hatte kurze Zeit in einer Badewanne mit kochendheißem Wasser gelegen und dadurch so großflächige Hautverbrennungen erlitten, daß es für immer schwer behindert sein wird. Die Frage, wie David in die Wanne gelangt ist, muß seit gestern die 28. Strafkammer des Landgerichts klären. Angeklagt ist der damalige Lebensgefährte von Davids Mutter, der 48jährige arbeitslose Automateneinrichter Hans-Jürgen R. Er soll David in das brühendheiße Wasser gesetzt, gelegt oder geschubst haben, um dessen Mutter zu zeigen, wie weh es tue, ein Kind zu verlieren. Denn: Die 37jährige Frau hatte kurz zuvor eine Fehlgeburt erlitten, wobei der Angeklagte der Erzeuger war.

Das Gericht unter Vorsitz von Richterin Daniela Solin-Stojanović steht in dem bis Mitte Juni anberaumten Prozeß vor einer schwierigen Aufgabe: Außer dem betroffenen David und dem Angeklagten gibt es keine unmittelbaren Zeugen. Erschwerend kommt hinzu, daß Hans-Jürgen R. und die 37jährige Kindesmutter Marina W. damals in einem Trinkermilieu lebten und auch zum Zeitpunkt des Vorfalls reichlich alkoholisiert waren. Die im Bezirk Mitte gelegene Wohnung der Frau, in der seinerzeit sowohl der Angeklagte als auch zeitweise andere Alkoholiker aus dem naheliegenden Park untergekommen waren, beschrieb ein Kripobeamter gestern mit den Worten: Überall hätten Bier-, Schnapsflaschen und Müll herumgestanden.

Der Gegensatz zwischen Hans- Jürgen R. und Marina W. könnte kaum größer sein. Der Mann mit dem faltigen vom Leben gezeichneten Gesicht, der zu DDR-Zeiten wegen Diebstahls und „Asozialität“ zusammengenommen fast zehn Jahre seines Lebens in Haft verbrachte, hat eine schmale Statur. Marina W. dagegen ist wohlgerundet, um nicht zu sagen korpulent. Sie ist eindeutig die kräftigere. Ein Kripobeamter: „Er wurde von der Frau körperlich gezüchtigt.“ Die Betroffenheit, mit der der Angeklagte gestern über den Vorfall sprach, wirkte echt. „Ich weiß nicht, wie das passiert ist“, sagte er mehrfach mit belegter Stimme. Unstrittig ist, daß Marina W. an dem besagten Abend das Wasser in die Wanne laufen ließ, damit Hans-Jürgen R. mit David ein Bad nehmen könne. Dabei war der Frau entgangen, daß die Temperatur des Boilers auf 95 Grad gestellt war. Hans-Jürgen R. sagte, er habe mit Marina W. und deren Freundin noch einen kurzen Augenblick im Wohnzimmer gesessen und Alkohol getrunken, bevor er ins Bad gegangen sei. Dort habe „Strippe“, wie er David nennt, mit dem Rücken in der zehn Zentimeter hoch mit Wasser gefüllten Wanne gelegen. Er habe das Kind schnell gepackt und herausgehoben und nach der Frau gebrüllt. Er hätte „Strippe“, den er sehr gern habe, so etwas nie angetan. Er sei richtig „stolz“ auf den Jungen gewesen, habe sich für ihn verantwortlich gefühlt, ihn gewickelt und versucht, ihm Sprechen beizubringen. Denn die Mutter habe auf all diese Dinge nicht so einen großen Wert gelegt. Die Fehlgeburt sei für ihn kein Problem gewesen, weil er zwei erwachsene Kinder habe.

Davids Mutter Marina W. wollte vor Gericht zunächst nicht zugeben, daß sie seinerzeit Alkoholikerin war. Auch daß sich der Angeklagte um David gekümmert habe, mußte das Gericht mühsam aus ihr herausfragen. Zum Tatvorwurf sagte die Frau: Hans-Jürgen R. habe das Wohnzimmer verlassen, und David sei ihm hinterhergerannt. Kurz darauf habe das Kind im Bad laut gebrüllt. Als sie dorthin gestürzt sei, habe der Angeklagte gerade versucht, dem vor ihm stehenden nassen Jungen den dampfenden Pullover auszuziehen. Die Ermittlungen wegen versuchten Mordes waren erst Monate nach dem Vorfall in Gang gekommen, als Marina W. sich von dem Angeklagten trennte. Bei dieser Gelegenheit habe er ihr gesagt: „Nur daß du Bescheid weißt, bei David habe ich doch nachgeholfen.“ Der Prozeß wird kommenden Dienstag fortgesetzt. Plutonia Plarre