■ In der größten Stadt der Welt bebt regelmäßig die Erde: Fröhliche Schaukelbewegungen
Mexiko-Stadt (taz) – Wenn zu fortgeschrittener Stunde die Wände plötzlich schwanken, die Lampe ohne erkennbaren Grund und bei geschlossenen Fenstern zu schaukeln anfängt und der Kleesche Kunstdruck an der Wand so tut, als befinde er sich auf einem Hochseedampfer bei stürmischer See – dann ist etwas entschieden nicht in Ordnung. Und wenn kurz darauf pyjamagekleidete Nachbarinnen auf die Straße unters fahle Laternenlicht treten und sich um das einzige Telefon an der Straßenecke versammeln, dann liegt der Grund möglicherweise nicht in übermäßigem Alkoholkonsum, dann bebt, schlicht und ergreifend, die Erde in Mexiko-Stadt.
Ist der in seismologischen Angelegenheiten unerfahrene Mensch einmal zu dieser Erkenntnis gelangt, dann stellt sich ihm zunächst die drängende Frage: rein oder raus? Diese aber ist, wie auch sonst fast nichts in dieser Metropole der Zweideutigkeiten, nicht einfach zu beantworten. Während die Lampen noch in fröhlichen Schaukelbewegungen befangen sind, erörtern die erdbebengeschulten Mitbewohner des dreistöckigen Wohnhauses der Zugereisten gelassen die Handlungsalternativen: Auf die Straße? Man rät schärfstens ab – eines der vielen wilden Stromkabel erwischt den Flüchtigen bestimmt. Aber auch das altbewährte Unter- den-Tisch-Kriechen scheint wenig aussichtsreich, wenn die Tische sämtlichst mit hochmodernen Glasplatten belegt sind, also wenig Standfestigkeit gegen zusammenkrachende Wände und Decken versprechen.
Die salomonische Lösung: weder raus noch rein, sondern einfach im Türrahmen stehenbleiben. Während rundherum das Haus in Schutt zerfalle, so die auch in freundlichen Aufklärungsbroschüren („Was tue ich bei einem Erdbeben?“) verbreitete Theorie, bleibe der Türpfosten stehen wie ein Fels in der Brandung. Also stellen wir uns alle in unsere Wohnungstüren.
Was denn im September 1985 mit dem Haus geschehen sei, will ich etwas zögernd wissen. Damals hatte ein verheerendes Beben an die tausend Gebäude zusammenkrachen lassen und zehntausende unter den Trümmern vergraben. Nichts weiter, beschwichtigen mich die stolzen Bewohner, inzwischen sei das allerdings etwas anderes, mit den vielen Rissen in den Wänden. Doch wirklich Sorgen zu machen brauchten sich eigentlich nur die oberen Stockwerke. Für diese beruhigenden Worte war ich ehrlich dankbar – auch wenn mir ihre Logik bis heute verschlossen blieb.
Am nächsten Tag ist der abendlich Schreck schon fast wieder vergessen. Es bebt schließlich jahrausjahrein in dem geplagten 20-Millionen-Moloch.
Dabei ist dieser bekanntlich nicht auf sonderlich festem Grund gebaut. Wo vor 500 Jahren noch ein „amerikanisches Venedig“ die europäischen Eindrinlinge faszinierte, stehen im heutigen Stadtzentrum die als Insignien der Moderne unentbehrlichen Fast-Wolkenkratzer – mit einem kleinen Schönheitsfehler: ein Großteil der Hochhäuser wurde zu Zeiten einer blühenden Korruption erbaut, in denen der teure Zement zwar auf den Rechnungen aber nicht in den realexistierenden Zementmischern zu erscheinen pflegte.
So warten die HauptstädterInnen – und ihre Gäste – noch auf das eigentliche, schon von atztekischen Wahrsagern für die Jahrtausendwende prophezeite, apokalyptische Beben, das auch mit den letzten Wahrzeichen europäischer Usurpation aufräumen wird.
In der Zwischenzeit schlägt man sich mit ausbrechenden Choleraherden herum oder bastelt an einer komplizierten Politreform, die der größten Stadt der Welt zu der hochmodernen Einrichtung eines gewählten Bürgermeisters verhelfen soll. Anne Huffschmid
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