■ Nach der Verabschiedung des „Asylkompromisses“: Es gibt ein Leben nach dem Tag X
„Soziale Bewegungen kommen und gehen“, schrieb irgendwo Ulrich Beck und fügte melancholisch hinzu: „hauptsächlich gehen sie.“ Droht der demokratischen Bewegung zur Verteidigung des Art. 16 GG, die seit August letzten Jahres, seit Rostock und Mölln, Massencharakter anzunehmen begann, das von dem Münchner Soziologieprofessor prognostizierte Schicksal? Und wäre der Auseinanderfall dieser Bewegung nicht um so schwerwiegender, als mit der Abschaffung des verfassungsmäßigen Rechts auf Asyl ein weiterer Katalysator der Entwicklung in Richtung autoritärer Staat, ein riesiger Kontroll- und Abschiebeapparat, in Aktion träte?
Kein Zweifel, von den Angriffen auf den Abtreibungs-Kompromiß über den leichthändigen Umgang mit der Tarifautonomie bis zu der Forderung, deutsche Soldaten überall marschieren zu lassen, wo es das deutsche Sicherheitsbedürfnis für erforderlich hält: der rechte Wind pfeift uns um die Ohren. Aber hüten wir uns davor, den 26. Mai zu einem Tag zu proklamieren, der unwiderruflich „die Republik geändert hat“. Bereits zweimal, nach der Verabschiedung der Notstandsgesetze und nach der Stationierung der Pershing II, schien vielen Demokraten der Weg in die Katastrophe vorgezeichnet. Wer hätte es sich damals träumen lassen, daß die Notstands-Einsatzpläne vermodern und es ausgerechnet die Regierung des Kanzlers Brandt sein würde, die die Grundrechte einschränkte? Wer hätte nach 1983 auch nur das Gedankenspiel erwogen, die Forderungen der Friedensbewegung würden schließlich durch die Staatschefs der beiden Supermächte erfüllt?
Aufstieg und Niedergang sozialer Bewegungen folgen keinem zyklischen Schema, keiner wie immer gearteten Gesetzmäßigkeit. Für die politischen Gebrechen, die zu ihrem vorzeitigen Ende führen, sind die Bewegungs-Aktivisten selbst verantwortlich. Bei den Notstandsgesetzen war es die geradezu paranoide Fixierung auf die vorgegebenen Planspiele, bei der Friedensbewegung die ebenso sture Einengung des Blickfelds auf die Raketen, die in beiden Fällen zur politischen Impotenz der demokratischen Bewegung führte. Trieb viele von uns damals nicht die halbbewußte Sehnsucht nach dem worst case, der Wunsch nach Bestätigung des vorgegebenen Weltbilds?
Kein Mensch zwingt das buntscheckige Lager, das zur Verteidigung von Demokratie und Zivilität angetreten ist, die gleichen Fehler ständig zu wiederholen. Die Auseinandersetzung um eine demokratische Lösung der Fragen, die mit der Migration und der Multikulturalität zusammenhängen, muß auf verschiedenen Bühnen simultan ausgefochten werden. Das ist die Quintessenz der Thesen, die von dem Frankfurter Multikulti-Kern um Cohn-Bendit, Schmid und Herterich vorgetragen worden sind. Es geht darum, gleichzeitig das Recht auf politisches Asyl zu verteidigen, ein Einwanderungsgesetz durchzubringen, den Status politischer Flüchtlinge zu sichern, die doppelte Staatsbürgerschaft zu erreichen und sich für eine Verbesserung der Wettbewerbschancen der Auswanderer- Länder auf den EG-Märkten einzusetzen. Bei den Verhandlungen mit der CDU hat die SPD nicht eine dieser Forderungen durchsetzen können. Aber bedeutet der Pseudo-Kompromiß, der gestern verabschiedet worden ist, das Ende des gesellschaftlichen Kampfs um die „Paketlösung“?
Man wird einwenden, es ginge bei solchen Überlegungen in Wirklichkeit nur um einen Terrainwechsel nach verlorener Schlacht, um hohle Redensarten, die keinem Flüchtling nutzen werden, der künftig binnen Stundenfrist ins „Heimatland“ abgeschoben wird. Eine nüchterne Analyse der Folgen des Asyl„kompromisses“ belehrt uns jedoch, daß die Zahl der Asylsuchenden abnehmen, die Zahl der illegal Einreisenden hingegen sprunghaft ansteigen wird. Jetzt gilt es, sich für diese „Illegalen“ einzusetzen, jetzt gilt es außerdem, gegen die Polizeiaufrüstung an der Ostgrenze Front zu machen. Die „Paketlösung“, bei deren Durchsetzung die SPD so schmählich versagte, muß von den Bündnis-Grünen als unverzichtbares Essential in mögliche rot-grüne Verhandlungen eingebracht werden.
Den Ausschlag wird in jedem Fall geben, ob für eine demokratische Flüchtlings- und Einwanderungspolitik gesellschaftliche Mehrheiten zu gewinnen sind. Wer dies wirklich will, muß sich den objektiven Widersprüchen, den entgegengesetzten, jeweils legitimen Bedürfnissen – z.B. dem Wunsch nach Erhöhung des Kontingents für Arbeitserlaubnisse von Nicht- EG-Ausländern einerseits, der Forderung nach erhöhter Beschäftigung von Deutschen, insbesondere in den neuen Bundesländern andererseits – stellen. Hier handelt es sich mitnichten um ein Scheinproblem. Die von den Grünen noch vor kurzem fast unisono intonierte Parole „Wer kommen will, soll kommen“ und „Bleiberecht für alle und auf Dauer“ gibt jeden Versuch, für eine demokratische Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik Mehrheiten zu gewinnen, der Lächerlichkeit preis. Mit einer solchen politischen Linie gewappnet, läßt sich trefflich gegen das „nationalistische und rassistische Regime“ (Ludger Volmer) wettern. Mehr wird dann allerdings nicht drin sein. Christian Semler
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