Türkei: Anschlag auf Armeeangehörige

Mit einem Massaker an türkischen Rekruten hat die kurdische PKK ihren einseitig verkündeten Waffenstillstand gebrochen / Politische Lösungsversuche weit zurückgeworfen  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Mit dem Massaker an 35 Reisenden in einer Schlucht nahe der Stadt Bingöl hat die kurdische Guerillaorganisation PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) vorläufig alle Hoffnungen auf eine friedliche Lösung der Kurdenfrage in der Türkei zunichtegemacht. Mit dem Terroranschlag am Montag abend hat PKK-Chef Öcalan den einseitigen Waffenstillstand, den er im März verkündet hatte, gebrochen und die gesamte türkische Öffentlichkeit gegen sich aufgebracht. „Ein niederträchtiges Massaker“ titelte die Tageszeitung Sabah in ihrer gestrigen Ausgabe. „Dynamit auf den Frieden“ heißt es in der auflagenstarken Hürriyet. „Anschlag der PKK auf den Frieden“ schlagzeilt das angesehene Blatt Cumhuriyet.

Eine Gruppe von 100 bis 150 PKK-Militanten hatte am Montagabend Barrikaden auf der Fernstraße von Bingöl nach Elazig errichtet. Alle Fahrzeuge wurden angehalten und rund 300 Reisende wurden zum Aussteigen gezwungen. Als der Fahrer eines Fernbusses die Barrikade entdeckte und die Flucht ergriff, eröffneten die PKK-Partisanen das Feuer. Eine Frau und ein Mann starben im Kugelhagel. Zwei Kleinbusse, die vom Militärdienst befreite Soldaten in Zivil transportierten, wurden ebenfalls gestoppt. Insgesamt wurden über hundert Zivilisten und Soldaten von den PKK-Militanten in die Berge verschleppt. Wenige Stunden danach wurde mit Maschinenpistolen das Feuer auf die Verschleppten eröffnet, nachdem man einen Teil von ihnen auf einem Gelände zusammengetrieben hatte.

Der Lehrer Ersoy Ölmez, einer der Überlebenden sprach im Krankenhaus von Elazig mit Reportern der Tageszeitung Hürriyet: „Einer, den ich für einen Anführer hielt, sagte uns: 'Wir haben einen Waffenstillstand verkündet. Aber Ihr habt euch nicht daran gehalten. Wir werden Rache üben'. Um 3.00 Uhr trieben sie uns plötzlich zusammen und eröffneten das Feuer. Ich wurde am Bein verletzt und fiel neben einem Baum zu Boden. Ich höre immmer noch das Schluchzen der Sterbenden. Es war eine einzige Blutlache." Insgesamt 35 Menschen wurden in der Nacht von Montag auf Dienstag getötet. Verbände der türkischen Armee starteten nach Bekanntwerden des Anschlages umfangreiche militärische Operationen in dem unzugänglichen Gebiet. Es kam zu Feuergefechten zwischen Guerillas und den Streikräften. Offiziellen Angaben zufolge sollen dabei 10 PKK-Militante getötet worden sein.

Der türkische Staatspräsident Süleyman Demirel reagierte mit einer scharfen Stellungnahme auf das Massaker. "Es ist eine große Schande, daß Mörder auf Soldaten, Polizisten und Zivilisten schießen und Blut vergießen, während wir versuchen, den Frieden und die Brüderlichkeit in der Türkei dauerhaft zu etablieren." Die politische Wirkung des Anschlages ist verheerend. Die Falken in der türkischen Kurdistan-Politik, die nach der Verkündung des Waffenstillstandes durch PKK-Chef Öcalan zunehmend in die Defensive gedrängt wurden, haben nun Auftrieb erhalten. Das Entgegenkommen von Teilen der liberalen und linken türkischen Öffentlichkeit gegenüber der PKK nach dem Waffenstillstand ist vollends in Frage gestellt.

Auch der Zeitpunkt des Anschlages läßt eine Reihe von Fragen aufkommen. Am Montag abend hatte Süleyman Demirel dem Nationalen Sicherheitsrat, wo die Militärs den Ton angeben, zuKonzessionen bewegen können. Der Nationale Sicherheitsrat empfahl der Regierung eine Teilamnesty für PKK-Partisanen. Noch am gleichen Abend verabschiedete das türkische Kabinett eine Verfügung mit Gesetzeskraft, die diese Amnesty mit sofortiger Wirkung in Kraft setzen sollte. Nach der Empfehlung des Nationalen Sicherheitsrates und der Kabinettsentscheidung schwärmten türkische Kommentatoren von einer „historischen Wende“.

„Der türkische Staat schließt Frieden mit seinen kurdischen Bürgern“, war in der Tageszeitung Milliyet zu lesen. Als am Dienstag morgen, unmittelbar vor der Gegenzeichnung des Amnesty-Gesetzes durch den Staatspräsidenten, die ersten Nachrichten über die Ereignisse in Bingöl eintrafen, herrschte Verwirrung unter den Politikern.

Der vorübergehend amtierende Ministerpräsident Erdal Inönü erklärte, daß die Amnesty-Verfügung von der Regierung vorläufig zurückgezogen worden sei. „Um den Terror zu beenden, ist es notwendig, daß die Bewaffneten in den Bergen von ihren Waffen ablassen. Unsere Amnesty-Entscheidung ist zwar gültig, doch wir können sie im Moment nicht in die Praxis umsetzen. Es ist notwendig, daß die Terroristen endgültig ihre Waffen niederlegen und sich am gesellschaftlichen Frieden beteiligen“, sagte er.

Die türkische Regierung hatte ebenfalls nach dem Waffenstillstand in Aussicht gestellt, daß der Ausnahmezustand in den kurdischen Regionen im Sommer aufgehoben wird. Nun steht die Regierung unter dem Druck der Opposition und der nationalistischen Öffentlichkeit. Oppositionsführer Mesut Yilmaz von der Mutterlandspartei bezichtigte die Regierung, mit der PKK einen Deal gemacht zu haben. „War diese Verfügung als Konzession an die Terrororganisation gedacht?“, fragte er empört in der Fraktionssitzung seiner Partei.

Lange Zeit wurde unter kurdischen und linken Intellektuellen in der Türkei darüber spekuliert, daß der Anschlag eine Inszenierung von den Falken innerhalb des türkischen Staatsapparates sei, um den Liberalisierungsprozeß in Türkisch-Kurdistan zu torpedieren. Doch die Kommandantur der ARGK (Nationale Befreiungsarmee Kurdistans), die der PKK untersteht, übernahm die Verantwortung.

Es folgten Spekulationen darüber, daß nicht kontrollierte Teile der PKK den Anschlag zu verantworten hätten. Doch schließlich äußerte sich auch PKK-Chef Abdullah Öcalan zu den Vorfällen. Er rechtfertigte das Massaker als „Vergeltungsanschlag“ auf die Tötung von 15 Guerilleros. „Diese Aktion ist eine Warnung. Es stimmt nicht, daß die PKK in einer Position der Schwäche ist. Dieser Anschlag wird es allen deutlich machen“, sagte er gegenüber der PKK-nahen Istanbuler Tageszeitung Gündem. Nichtsdestotrotz sei der Waffenstillstand gültig. Doch der von der PKK verkündete einseitige Waffenstillstand, der die Diskussion um demokratische Reformen in den kurdischen Regionen forcierte, wird von keinem türkischen Politiker mehr ernst genommen.