„Die Lobby ist eingefroren“

Ein Jahr nach der UNO-Umweltkonferenz von Rio: Brasiliens Umweltgruppen gestärkt, aber für die Regierung ist Umweltschutz kein Thema  ■ Aus Rio Astrid Prange

Waren die Erwartungen zu hochgeschraubt, oder handelte es sich schlicht um eines der vielen bedeutungslosen Spektakel auf internationaler Ebene? Für Brasilien fällt die Bilanz vernichtend aus: Ein Jahr nach der UNO-Umweltkonferenz in Rio de Janeiro (UNCED) vom 3. bis 15. Juni 1992 sind auf der Regierungsebene keine nennenswerten Fortschritte im Bereich Umweltpolitik zu erkennen. Die regierungsunabhängigen Organisationen, genannt NGOs, hingegen profitierten von dem Mammutereignis. Sie haben sich in Brasilien als dauerhafte politische Kraft etabliert.

„Die Frustration ist enorm“, beschreibt Abgeordneter Fabio Feldman die Stimmung. Die Entscheidungen der Weltbank würden nach wie vor ohne Rücksprache mit den betroffenen Entwicklungsländern getroffen, und die Mittel zur Finanzierung des auf dem Gipfel vereinbarten Umweltprogrammes „Agenda 21“ flössen äußerst spärlich. Feldman: „Die Lobby ist eingefroren, grüne Abgeordnete haben heute im Parlament mehr Schwierigkeiten als vor einem Jahr.“

Marcilio Marquez Moreira, während der UNCED brasilianischer Wirtschaftsminister und zur Zeit mit den internationalen Kontakten der Stadtverwaltung von Rio betraut, erklärt die allgemeine Enttäuschung mit den „übertriebenen Erwartungen“. Die Konferenz sei für Brasilien ohne Zweifel positiv gewesen, auch wenn die Probleme, zum Beispiel die Ausbreitung von Elendsvierteln in Naturschutzgebieten, weiterhin bestehen.

Auf offizieller Ebene sind die Bemühungen für verstärkten Umweltschutz offensichtlich erlahmt. Präsident Itamar Franco hat das Thema Umweltschutz von seiner Prioritätenliste gestrichen. Umweltminister Jorge Coutinho zeichnet sich durch Schweigsamkeit und Nichtstun aus. Die Zerstörung des Regen- und Küstenwaldes schreitet unaufhaltsam voran und Umweltschützer sind in Brasilien nach wie vor ihres Lebens nicht sicher.

„Unmittelbar nach der Konferenz kam es zu einer gewissen Übersättigung“, erinnert sich Jos Padua, Mitarbeiter von Greenpeace-Brasilien. Doch insgesamt sei das Verständnis von Umweltproblemen innerhalb der brasilianischen Bevölkerung gewachsen. Für die internationale Umweltschutzorganisation, die Ende 1991 mit dem Aufbau einer eigenen Filiale in Brasilien begann, war die UNO-Konferenz der eigentliche Startschuß.

In der vergangenen Woche gelang es Greenpeace zusammen mit zwei weiteren brasilianischen NGOs, erstmals eine illegale großangelegte Abholzungsaktion im Küstenwald im Süden des Bundesstaates Bahia zu filmen. Die Zerstörung des Urwaldes durch das Bauunternehmen „Odebrecht“ sollte der Anlage von Eukalyptus- und Pinienplantagen dienen. Mit 450 verschiedenen Baumarten pro Hektar gehört der brasilianische Küstenwald, genannt „Mata Atlantica“, zu den Naturwäldern mit der größten Artenvielfalt weltweit. Die Filmaufnahmen der Umweltschützer haben die Abholzungsarbeiten vorerst auf Eis gelegt.

Bereits im November vergangenen Jahres gelang Greenpeace ein erfolgreicher Coup gegen den illegalen Holzeinschlag: Die Umweltschützer besetzten das Sägewerk „Maginco“ im Amazonas, wo illegal in Indianerreservaten gefällte Mahagonibäume zu teurer Exportware verarbeitet werden (die taz berichtete). Die aufsehenerregende Aktion führte zur Sperrung der von den Holzhändlern heimlich angelegten Zufahrtsstraßen in den Indianerreservaten im Bundesstaat Para.

Doch „denunzieren reicht nicht. Es müssen Alternativen aufgezeigt werden“, wertet der Abgeordnete Fabio Feldman die Teilerfolge ab. Thomas Fatheuer, Mitarbeiter des Deutschen Entwicklungsdienstes und zugleich für die brasilianische NGO „Fase“ tätig, räumt eine gewisse Orientierungslosigkeit auch unter den Umweltschützern ein. „In gewisser Weise war die Rio- Konferenz eine demonstrative Abkehr von dem alten Grundsatz „global denken – lokal handeln“, schreibt er in einer vom brasilianischen Forum der NGOs herausgegebenen Bilanz. Bei den Diskussionen habe sich herausgestellt, daß viele lokale Probleme sich nur dann lösen lassen, wenn sich auch die globalen Rahmenbedingungen ändern.

Doch gerade die globalen Umstände für großangelegte Umweltschutzprogramme sind zur Zeit alles andere als günstig. „Die Solidarität mit den Problemen der Dritten Welt ist zurückgegangen. Meldungen über erschossene Gewerkschafter und Umweltschützer sind nicht mehr gefragt“, kommentiert Greenpeacer Jos Padua die angespannte internationale Lage.

Jüngstes Opfer der brasilianischen Todesschwadronen ist der Vorsitzende der Landgewerkschaft aus Eldorado, Arnaldo Delcidio Ferreira. Der 47jährige wurde am 2. Mai schlafend in seinem Haus in der Kleinstadt im brasilianischen Bundesstaat Para erschossen. Eine Woche zuvor, am 28. April, mußte der 37jährige Paulo Cesar Vinha für seine Überzeugungen sterben. Der Biologe aus Barra do Jucu im Bundesstaat Espirito Santo denunzierte die illegale Abtragung der Dünenlandschaft an der Atlantikküste durch große Firmen. Außerdem organisierte er Kundgebungen gegen die örtliche Firma „Aracruz Celulosa SA“, eine der größten Zellstoffexporteure der Welt.

Auch Verbrecher, die bereits hinter Gittern sitzen, können in Brasilien auf die Gnade des Schicksals hoffen. Die zu Beginn des vergangenen Jahres zu 19 Jahren Haft verurteilten Mörder des Gummizapfers Chico Mendes flohen im vergangenen Februar mit Hilfe der örtlichen Polizei aus dem Gefängnis in Xapuri (die taz berichtete). Beide befinden sich noch immer auf freiem Fuß.

Brasiliens rund 200.000 Indios, auf der Umweltkonferenz von Politikern als Naturschützer ersten Ranges und Kenner pflanzlicher Heilmittel umworben, sind völlig in Vergessenheit geraten. Gemäß der neuen Verfassung müßten bis zum Oktober dieses Jahres die insgesamt 510 Indianergebiete im Land als Reservate ausgewiesen sein. Doch bis jetzt sind nach Angaben der offiziellen Indianerschutzorganisation „Funai“ lediglich 272 Reservate vollständig markiert, und bei 109 weiteren Flächen ist mit der Vermessung begonnen worden. Insgesamt machen die Indianerreservate zehn Prozent der Fläche Brasiliens, acht Millionen Quadratkilometer, aus.

Rios neuer Bürgermeister Csar Maia bewahrt sich trotz der negativen Bilanz seinen Optimismus. Vom 3. bis zum 5. Juni hat er 29 Bürgermeister, überwiegend aus lateinamerikanischen Metropolen, zur „Ersten Städtekonferenz des 21. Jahrhunderts“, kurz „Rio 93“, an die Copacabana eingeladen. Der internationale Erfahrungsaustausch soll in Zukunft jedes Jahr stattfinden, stets im Kongreßzentrum, wo im Juni 1992 über 130 Staatsoberhäupter zur UNCED zusammenkamen.

Damals laß Fidel Castro seinen Amtskollegen die Leviten. „Die Entwicklungsländer sind Opfer des Exports eines Lebensstils und Konsumverhaltens, das die Umwelt zerstört“, stellte der Máximo Lider klar. Alle Anwesenden, sogar der ehemalige US-Präsident Bush, applaudierten. Doch die Schuldenberge wuchsen weiter, die Handelskriege verschärften sich, und die Plünderung der natürlichen Ressourcen ist nach wie vor ungebremst.

Die frommen Wünsche und edlen Besserungsabsichten vergaßen die Regierungschefs an der Copacabana.